Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki
allmählich Gestalt an, als er auf dem Balkon sitzend genauer darüber nachdachte.
Eine fast ungebrochene Harmonie hatte die fünf Freunde geeint. Sie akzeptierten und verstanden einander. Alle waren damit absolut glücklich. Aber dieses Glück konnte nicht von Dauer sein. Irgendwann würde etwas sie aus ihrem Paradies vertreiben. Junge Menschen entwickeln sich in verschiedenem Tempo und in verschiedene Richtungen. Mit der Zeit würden sich unweigerlich Differenzen ergeben, feine Risse sich auftun, die bald gar nicht mehr so fein sein würden.
Vielleicht hatte Shiro den Druck dessen, was kommen würde, nicht mehr ertragen. Vielleicht hatte sie gefürchtet, dass sie, sobald die Harmonie der Gruppe zerbrach, in den Wirren des Zusammenbruchs irreparablen Schaden erleiden würde. Wie ein Schiffbrüchiger von den Strudeln seines sinkenden Schiffes verschlungen und auf den Meeresgrund gezogen wird.
In gewisser Weise konnte Tsukuru sie verstehen. Jetzt konnte er sie verstehen. Wahrscheinlich hatten durch sexuelle Enthaltsamkeit entstandene Spannungen dabei keine geringe Rolle gespielt. Konnte er sich zumindest vorstellen. Die lebhaften erotischen Träume, die er später gehabt hatte, waren eventuell eine erweiterte Folge dieser Spannungen gewesen. Sie mussten auch bei den anderen vier etwas – was, wusste er nicht – ausgelöst haben.
Shiro hatte diesem Zustand entfliehen wollen. Sie hatte die enge zwischenmenschliche Beziehung, die eine unentwegte Beherrschung ihrer Gefühle erforderte, nicht länger ertragen können. Shiro war von den fünfen ohne Zweifel die Empfindsamste gewesen und hatte die Risse schneller wahrgenommen als die anderen, aber die Gruppe nicht verlassen können. Dazu hatte ihr die Kraft gefehlt. Also hatte sie Tsukuru zum Verräter gemacht. Als der Erste, der die Gemeinschaft verlassen hatte, war Tsukuru zugleich zu ihrem schwächsten Glied geworden. Mit anderen Worten: Er eignete sich zum Sündenbock. Und als Shiro vergewaltigt wurde (wer ihr das angetan hatte, würde wohl ewig ein Rätsel bleiben), klammerte sie sich in hysterischem Entsetzen mit aller Kraft an dieses schwächste Glied wie an eine Notbremse im Zug.
Folgte man diesem Gedanken, ergab so manches Sinn. Vielleicht hatte sie Tsukuru instinktiv als Trittstein benutzt, um die Mauern ihres Gefängnisses zu überwinden. Sie hatte gewusst, dass Tsukuru Tazaki es überleben würde. Ebenso wie Eri, die zu demselben nüchternen Schluss gelangt war.
Tsukuru Tazaki, der stets kühl und gelassen seinen Weg geht.
Tsukuru erhob sich und ging in die Wohnung. Er nahm den Cutty Sark aus dem Regal, schenkte sich ein Glas ein und kehrte damit auf den Balkon zurück. Er ließ sich auf dem Stuhl nieder und presste einen Moment lang die Finger seiner rechten Hand an die Schläfe. Nein, dachte er, ich bin kein Mensch, der stets kühl und gelassen seinen Weg geht. Es ist alles nur eine Frage des Gleichgewichts. Ich bin daran gewöhnt, Lasten gleichmäßig auf beide Seiten meines Schwerpunkts zu verteilen. Deshalb mögen andere mich für kaltblütig halten. Aber das Gewicht auszugleichen ist viel schwerer, als es aussieht. Denn das Gesamtgewicht wird dadurch um keinen Deut geringer.
Trotz allem konnte er Shiro – Yuzu – verzeihen. Sie war tief verwundet worden und hatte nur versucht, sich zu schützen. Sie war nicht stark gewesen. Es war ihr nie gelungen, sich eine harte Schale anzueignen, um sich vor Schaden zu bewahren. Angesichts der drohenden Katastrophe war ihr keine andere Wahl geblieben. Sie musste sich in Sicherheit bringen. Wer wollte sie verurteilen? Doch am Ende konnte sie, wohin sie auch floh, nicht entkommen. Der schwarze Schatten der Gewalt hatte sie erbarmungslos verfolgt. Eri hatte von einem »bösen Geist« gesprochen. Und in einer Nacht im Mai, als lautloser kalter Regen fiel, hatte er an ihre Tür geklopft, eine Schnur um ihren schönen, zarten Hals gelegt und sie erwürgt. Wahrscheinlich waren Stunde und Ort vorherbestimmt gewesen.
Tsukuru ging in die Wohnung, nahm den Telefonhörer ab und drückte fast unbewusst die Kurzwahl von Saras Nummer. Nachdem er es drei Mal hatte läuten lassen, entschied er sich anders und legte auf. Es war schon spät. Und morgen würde er sie sehen. Er durfte nicht so ein halb gares Zeug reden wie beim letzten Mal. Das wusste er. Doch der Wunsch, Saras Stimme zu hören, war so stark in ihm, dass es ihm schwerfiel, den Impuls zu unterdrücken.
Er legte die Années de pèlerinage in der Version von Lasar
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