Die Priesterin von Avalon
die Juden ihren Tempel errichtet hatten. Direkt außerhalb der Stadtmauer im Süden tauchte der Berg Sion aus dem Dunst auf. Immer mehr Gebäude wurden sichtbar, wirkten aber vor dem grauen Himmel noch leblos.
Dann durchdrang die Luft plötzlich ein Strahlen, und vor mir erstreckte sich mein Schatten, als wollte er nach der leuchtenden Stadt jenseits des Abgrunds aus Schatten greifen, der unter uns lag. Bauten, die eben noch aus leblosem Lehm, Mörtel und Stein bestanden hatten, glänzten plötzlich in zahllosen Goldschattierungen.
»Hier hat unser Herr gestanden«, flüsterte Eusebius mir ungewöhnlich gerührt zu. »ER hat seine Schüler in der Höhle unter unseren Füßen gelehrt, und ER hat prophezeit, in Hierosolyma werde kein Stein auf dem anderen bleiben. Und Titus hat SEINE Worte erfüllt.«
Dennoch steht die Stadt noch immer vor uns , dachte ich. Mit Schaudern registrierte ich, wie sich mein Bewusstsein verlagerte und ich nach innen blickte, sodass sich meine Sichtweise veränderte. Noch immer sah ich Hierosolyma vor mir, doch nun war es eine Reihe von Schichten, und die Konturen veränderten sich unablässig, während das Wesentliche erhalten blieb. Worte hallten durch meinen wachen Geist.
» Die Römer waren nicht die Ersten, die diese Stadt vernichteten, und die Juden werden auch nicht die Letzten sein, die sie verlieren. Sie ist schon oft gefallen, und sie wird in Blut und Feuer untergehen und in sauberem Stein immer wieder neu aufgebaut werden, während ein Eroberer nach dem anderen über dieses Land zieht. Die Nachfolger Christi werden sie zu ihrem geheiligten Zentrum machen, doch Menschen eines noch nicht geborenen Glaubens werden sie beherrschen, bis die Kinder Abrahams zurückkehren und wieder Anspruch darauf erheben.
Immer wieder wird Blut über diese Steine fließen, bis nicht nur die drei Glauben Jahwes, sondern alle Kulte, deren Altäre abgerissen wurden, hier wieder beten werden. Denn ich sage euch, dass Hierosolyma ein Ort der Macht ist, und nicht Menschen haben ihn dazu gemacht, sondern vielmehr jene, die von der Kraft berührt wurden, die sich aus den Tiefen seines Felsens erhebt und die Vereinigung mit dem Himmel sucht… «
Blinzelnd kam ich wieder zu mir. Die gespenstischen Umrisse der vergangenen und zukünftigen Städte verblassten, und die Stadt des Hier und Jetzt enthüllte sich überdeutlich im grellen Tageslicht. Dennoch war mir bewusst, dass die anderen Hierosolymas noch immer vorhanden waren als Teil der Heiligen Stadt, die immer bestehen würde.
»Herrin, ist dir nicht gut?«, flüsterte Cunoarda. Ich hatte mich an sie gelehnt, ohne es zu merken. Eusebius war noch in den Anblick vertieft, und ich stellte erleichtert fest, dass ich nicht laut gesprochen hatte.
»Ich war vorübergehend abgelenkt«, erwiderte ich und richtete mich auf.
Eusebius deutete auf die Bergkuppe, auf der blanker Fels zwischen Olivenbäumen herausragte. »Von dort ist Christus gen Himmel gefahren. Seit jenem Tag haben Christen an dieser Stelle gebetet.«
Ich verneigte mich in Ehrfurcht, wusste aber zugleich, wenn ich die Architekten anwiese, eine Kirche zu bauen, würde sie nicht den Gipfel krönen, sondern sich über der Erdhöhle erheben, in der Jesus seine Jünger in die tiefsten Mysterien einweihte.
In jener Nacht ging ich im Traum einen Berg hinauf. Zunächst glaubte ich, mit einer Gruppe christlicher Pilger auf den Ölberg zu steigen, doch es war ein kleinerer Hügel, und als es heller wurde, sah ich, dass es sich um den Tor handelte. Unter mir erblickte ich die wie Bienenkörbe wirkenden Hütten und die runde Kirche, die Joseph von Arimathia errichtet hatte. Es war demnach das Inis Witrin der Mönche, nicht Avalon. Doch während des Aufstiegs veränderte sich meine Sichtweise, und ich wusste, dass ich beide zugleich sah. Mein Blick wurde noch schärfer, bis ich die Kristallstruktur der Höhlen unter der Oberfläche des Tor sehen konnte.
Mit dem Dezember hielt der Winter in den Bergen von Judäa Einzug und brachte heftige Stürme und anhaltende feuchte Kälte mit sich, die bis in die Knochen drang. Stürme auf dem Mittelmeer ließen eine Rückfahrt nach Rom nicht ratsam erscheinen, die Arbeit an der Grabstätte war nahezu unmöglich, und als ich einen bellenden Husten bekam, der meine üblichen winterlichen Atembeschwerden noch verschlimmerte, schlug Bischof Eusebius vor, ich sollte nach Jericho gehen, wo es wärmer war, während er bliebe, um die Ausgrabung zu beaufsichtigen.
Auf dem Weg
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