Inside Occupy
Kapitel 1
Wir, die 99 Prozent
Im März 2011 bat mich Micah White, leitender Redakteur beim kanadischen Magazin
Adbusters
, um einen Beitrag darüber, ob es in Europa oder auch in den USA zu einer revolutionären Bewegung kommen könne. Mir fiel damals nicht sonderlich viel dazu ein – am ehesten noch, dass die jeweiligen Organisatoren immer selbst überrascht sind, wenn so was passiert. Über diese Frage hatte ich mich kurz zuvor, auf dem Höhepunkt der Proteste auf dem Tahrir-Platz, lange mit der ägyptischen Anarchistin Dina Makram-Ebeid unterhalten.
»Das Komische ist«, sagte mir meine ägyptische Freundin, »man macht das schon so lange, bis man irgendwie vergisst, dass man tatsächlich gewinnen könnte. All die Jahre, die wir nun Märsche organisieren, Kundgebungen … Und wenn nur 45 Leute aufkreuzen, ist man deprimiert. Kommen 300, ist man happy. Und dann hat man eines Tages 500 000 vor sich. Und man kann’s nicht fassen! Irgendwann glaubt man einfach nicht mehr, dass so was tatsächlich passieren könnte.«
Mubaraks Ägypten war eine der repressivsten Gesellschaften der ganzen Welt gewesen. Der ganze Staatsapparat war effektiv auf ein Ziel ausgerichtet: dass das, was schließlich passiert ist, niemals würde passieren können. Und dennoch ist es passiert.
Also, warum nicht auch hier?
Und dann passierte es, in den USA.
Selbstverständlich handelte es sich in unserem Fall nicht um den Sturz einer Militärdiktatur, sondern um den Ausbruch einer basisdemokratischen Massenbewegung – ein Ereignis, von dem die Aktivisten nicht weniger lange träumen, als die Machthaber im Land sich davor fürchten, und dessen endgültiger Ausgang ebenso ungewiss ist, wie es der Sturz Mubaraks war.
Lassen Sie mich Ihnen erzählen, wie es dazu kam – oder wenigstens den Teil der Geschichte, den ich aus erster Hand erzählen kann.
Als ich den Artikel – man gab ihm den Titel »Warten auf den magischen Funken« – für
Adbusters
schrieb, lebte ich in London. Da unterrichtete ich Anthropologie am Goldsmiths College und sah mich im vierten Jahr meiner Verbannung aus der amerikanischen akademischen Welt. Ich hatte mich bereits ziemlich massiv in der britischen Studentenbewegung engagiert und bei einigen Dutzend Universitätsbesetzungen überall im Land mitgeholfen, mit denen gegen die massiven Angriffe der konservativen Regierung auf das britische Bildungssystem protestiert wurde.
Adbusters
hatte mich ausdrücklich darum gebeten, in meinem Artikel über die Möglichkeit zu spekulieren, dass die Studentenbewegung den Beginn einer breit angelegten, europa-, ja weltweiten Rebellion markieren könnte.
Es entbehrt übrigens nicht einer gewissen Ironie, dass ich den Artikel für
Adbusters
schrieb. Ich war lange schon ein Fan des Magazins gewesen,aber dass ich selber Beiträge zu schreiben begonnen hatte, war noch gar nicht so lange her. Wenn ich nicht gerade meiner beruflichen Tätig keit als Sozialtheoretiker nachging, war ich eher ein Mann der Aktion auf der Straße.
Adbusters
ist eine Plattform für »Culture Jammers« – ins Leben gerufen von aufmüpfigen Werbeleuten, die, ihrer Jobs überdrüssig, zur anderen Seite übergewechselt waren, um als Profis ebenjene Aspekte der Konzernwelt zu unterwandern, die zu fördern man ihnen beigebracht hatte. Berühmt waren etwa ihre »subvertisements«, ihre subversive Antiwerbung. Sie hatten zum Beispiel einen Modespot produziert, der zeigt, wie ein magersüchtiges Model auf der Toilette kotzt. Als sie dann bei den großen Fernsehanstalten dafür Sendezeit zu kaufen versuchten, ließ man sie durch die Bank abblitzen. Von allen radikalen Magazinen ist
Adbusters
schon immer mit Abstand das schönste gewesen. Für viele Anarchisten gehört es deshalb nicht zum harten Kern. Ich begann für das Magazin zu schreiben, nachdem Micah White, der leitende Redakteur, mich 2008 wegen einer Kolumne angesprochen hatte. Später fasste er mich dann als eine Art regelmäßigen Großbritannien-Korrespondenten ins Auge.
Derlei Pläne gerieten rasch durcheinander, als mich ein Freisemester nach Amerika zurückführte. Ich traf im Juli 2011 in meiner Heimatstadt New York ein in der Erwartung, den größten Teil des Sommers mit der Promotionstour für mein jüngst veröffentlichtes Buch
Schulden: Die ersten 5000 Jahre
beschäftigt zu sein.
Außerdem schwebte mir vor, mich wieder in die New Yorker Aktivistenszene einzuklinken, obwohl die ziemlich im Argen lag. Ich hatte mich zwischen 2000 und 2003, auf dem
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