Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Prinzen von Queens - Roman

Die Prinzen von Queens - Roman

Titel: Die Prinzen von Queens - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
Vom Netzwerk:
Arm um die Taille, aber Alfredo ist zu glitschig, zu schnell, einfach zu frei. Er lässt die Bullen und seinen Bruder stehen und rennt auf die Nur für Mitarbeiter -Tür zu, die hinterm Ladentisch auf ihn wartet. Beide Polizisten, zwei Stimmen, brüllen los. Halt! Sofort stehenbleiben! Er rennt an der Frischetheke mit ihren Fleischröhren vorbei. Springt über einen Stapel Tageszeitungen. Er hat Angst. Er kann nicht schlucken. Er schmeckt die Hühnersuppe auf der Zunge. Der Teil des Ladentischs vor ihm hängt an einem Scharnier, an dem er umgeklappt werden kann. Alfredo rutscht unten durch. Der Türknauf in seiner Hand lässt sich wunderbar drehen.
    Als er wieder beschleunigt und durch Max’ Wohnung jagt, verliert er die Bullen aus den Augen. Er hört sie auch nicht mehr. Vielleicht sind sie zu langsam, zu weit zurückgefallen, oder sie haben sich möglicherweise entschieden, ihn nicht weiter zu verfolgen, sondern stattdessen in den Keller zu gehen. Aber seinen Bruder kann Alfredo hören. Tariq keucht dicht hinter ihm. Die Wohnung, durch die sie rennen, ist so schmal wie ein Subway-Waggon und ebenfalls dunkel, noch dunkler als der Laden. Beide Männer kennen den Weg. Eine Sommernacht in den späten 80ern: Papi steht im Laden hinterm Tresen und verkauft Lottoscheine, während Mama Schweinekoteletts brät und wegen irgendeines Unfugs – eine mit Urin gefüllte Wasserpistole, ein auseinandergefieseltes Mixtape – jagt Jose Jr. Alfredito unter den Flügeln von Plüschpapageien hinweg durch den Flur ins Wohnzimmer, und auf einmal sind die beiden Jungen überall gleichzeitig, im Jahr 1987, 1988, 1989, und die dunkelhaarigen Brüder flitzen durch die Gegend, schlafen auf dem Sofa, spielen auf dem Teppich Karten, essen Käsescheiben direkt aus der Folie, sitzen vorm Fernseher und kleben den Bildschirm mit He-Man-Aufklebern voll. Alfredo will sie warnen – wenn Papi das sieht, versohlt er euch den Hintern mit dem Gürtel –, aber die Kinder flirren und verblassen schon.
    Ein Schuss hinterlässt Totenstille. Fegt ihm den Wind aus den Ohren. Er ist verwirrt, hört ein Piepen. Zwei weitere Schüsse folgen, und er kann nicht sagen, ob sie von vorn oder von hinten kommen, sie sind laut wie Explosionen. Er denkt an Isabel, und etwas in ihm stürzt in sich zusammen. Panisch rennt er weiter. Die Tür vor ihm sind eigentlich zwei: eine Holztür, die nach innen aufgeht und weit offen steht, und eine äußere, eine Fliegengittertür, die wegen des Regens zu ist. Ist Tariq noch hinter ihm? Alfredo hat zu viel Angst, um nachzuschauen. Er kann nicht anhalten. Max sitzt im Dunkeln auf dem Sofa, in der Hand ein schnurloses Telefon. Das Piepen kommt vom Telefon, weil es zu lange nicht aufgelegt worden ist. Max sieht klein und ängstlich aus. Er streckt die Arme aus, die Handflächen nach oben, als wollte er ein Geschenk überreichen. Alfredo sieht beinahe zu spät, was kommt. Instinktiv schnellt seine Hand vors Gesicht, als er durch die Fliegentür kracht und sie dabei aus den Angeln reißt.
    »Waffe!«, schreit er. Sein Arm hat das Gewebe der Tür durchschlagen und in Fetzen gerissen. Er fliegt kopfüber in den Hinterhof, in den Schlamm, und schreit im Fallen: »Waffe! Waffe!«
    Als er auf dem Boden aufschlägt, fliegt ihm die Brille von der Nase. An den Seiten wird alles fransig, verliert an Kontur. Keine zwei Meter vor ihm kniet ein Polizist mit verschwommenem Gesicht, der Latino, neben einer Leiche. Der Cop sieht mitgenommen aus. Er wirft Alfredo einen stumpfen Blick zu, die Haut um seinen Mund zuckt. Mike Shifrin – wer sollte es sonst sein? – liegt reglos im Gras. Wahnsinn. Dass Shifrin hier ist. Dass er existiert. Er muss dem Polizeibeamten zuvorgekommen, als Erster in den Hinterhof gekommen sein, und trotzdem ist er derjenige, der auf dem Rücken liegt, die Füße friedlich übereinandergeschlagen, das weiße Hemd um die blutig blühenden Einschusslöcher herum aufgebauscht. Und der Cop ist derjenige, der noch lebt. Die ganze Plackerei an der Akademie. Vielleicht geht ja auch sein Abzug bloß leichter. Die Luft riecht nach Rauch. Es sieht aus, als wäre Shifrin dreimal in die Brust geschossen worden, vielleicht öfter. Schwer zu sagen. Alfredo sieht nicht so gut, wie er gerne würde – der Regen ist auch keine Hilfe –, aber sein Denken ist schnell und klar, vom Sprint durch den Laden auf Trab gebracht. Ausgestreckt im Gras, die Ellbogen im Matsch, kommt Alfredo sich wie in einer Art Zeitvakuum vor, einer kleinen, sicheren,

Weitere Kostenlose Bücher