Ein Jahr im Frühling (Cappuccino-Romane) (German Edition)
Nächtliches Gepolter, die Dichterfürstin,
kurzzeitiger Herzstillstand und ein Bürgersohn
Emily träumte. Es rumpelte und polterte. Nein,
nicht schon wieder! Sie blickte auf die Leuchtziffern ihres Weckers. Pünktlich
um zwei Uhr kam Thorsten, ihr unsäglicher Mitbewohner, mit einem kichernden
Mädchen in die Wohnung gestürzt. Sie hatten wohl gerade angefangen, sich
gegenseitig direkt vor ihrer Zimmertür auszuziehen, und sich dabei verheddert,
als Emily schlaftrunken die Tür aufriss und „Ruhe“ schrie. Betreten und fast
schuldbewusst blickten sie hoch – das Mädchen konnte wirklich nicht älter als
sechzehn sein – und prusteten dann gemeinsam los, als sie in Emilys
versteinerte Miene blickten.
Emily schlug die Tür zu, dass die Glaselemente in der
Bleieinfassung bedenklich zitterten, und suchte nach ihren Ohrstöpseln, die nun
schon zu ihrer nächtlichen Standardausrüstung gehörten. Seufzend kuschelte sie
sich wieder in ihr warmes Bett und ihre Gedanken glitten erneut zurück zum
Bergfriedhof und dem hochgewachsenen, südamerikanisch aussehenden Mann, dem sie
gestern dort begegnet war. Sie schnappte sich sehnsüchtig ihren uralten
Frotteehasen, der in solchen Fällen herhalten musste, und drückte ihn an ihre
Brust. Während sie langsam in die gnädigen Arme des Schlafs zurückglitt, sah
sie sich auf den Mann zugehen. Er streckte liebevoll seine Hand aus. Sie
ergriff sie und wusste sofort, dass sie dieser Hand ihr Leben anvertrauen
würde. Hand in Hand liefen sie den Friedhofsweg entlang, der in eine
Frühlingswiese mündete. Glocken klangen aus der Ferne, die an zersplitterndes
Glas erinnerten.
Emily schrak erneut auf. Thorsten schrie wie ein waidwundes
Tier. Er war doch tatsächlich rücklings durch ihre Zimmertür gekracht. Überall
lagen bunte Glassplitter. Undeutlich konnte
Emily sehen, dass in seinem Rücken einige große Scherben steckten. Sie knipste
das Licht an. Das Mädchen lag in sonderbar verrenkter Haltung im Flur und rang
die Hände. „Tun Sie ihm nichts!“
Bei Emily dreht sich alles im Kopf, nachdem sie zum zweiten
Mal so abrupt aus dem Schlaf gerissen worden war und es dauerte eine Weile, bis
sie einen klaren Gedanken fassen konnte. Dann suchte sie hektisch nach ihrem
Handy, während sie Thorsten beruhigende Worte zumurmelte.
Da war es ja endlich. Sie bestellte einen
Krankenwagen in die Schlossbergstraße. Dann setzte sie sich zu Thorsten auf den
Boden, nachdem sie einige Scherben zur Seite gewischt hatte. Er sah wirklich
schlimm aus, immerhin schrie er jetzt nicht mehr, sondern wimmerte nur noch.
Sollte sie ihm die Glasscherben selbst aus dem Rücken ziehen oder doch lieber
warten? Sicher würde es weniger wehtun, wenn er vorher eine Spritze bekommen
hätte. So ließ sie die Scherben an Ort und Stelle und nahm seine Hand, die ganz
kalt war. Nun wurde es ihr selbst ganz angst und bange, so einen starren Blick
hatte er, und das nervöse Kichern, das eben noch in ihr hochgeblubbert war,
weil sie die Situation einfach zu grotesk fand, verebbte. Thorsten begann
seinen Oberkörper vor und zurück zu wiegen und eine kleine Melodie zu summen.
Das Mädchen im Flur war tatsächlich auf dem Boden
eingeschlafen. Umso besser, um sie konnte sie sich später kümmern. Wo blieb
denn nur der Krankenwagen?
Inzwischen tat ihr Thorsten richtig leid, als sie sah, wie sich
sein T-Shirt an einigen Stellen immer röter färbte. Pah, andererseits hatte er
es wirklich übertrieben. Er schlief tagsüber, machte sich abends sorgfältig
zurecht, um dann die Nacht zum Tag zu machen. Meistens kam er so wie heute
mitten in der Nacht nach Hause und hatte irgendein Mädchen dabei, mit dem er
dann den Rest der Nacht zugange war.
Während sie wartete und Thorstens klamme Hand hielt,
erinnerte sie sich an ihren Einzug vor vier Wochen. Sie stand wieder vor dem
neoklassizistischen Haus in der Schlossbergstraße. Mit dem Umzug ging für sie
ein Traum in Erfüllung. Fröhlich reckte sie ihre Nase in das Frühlingslüftchen
und zog gleichzeitig ihre Strickjacke enger um sich, denn es war noch
empfindlich frisch. Der kleine Möbelwagen musste jeden Moment da sein, so genau
ließ sich das ja nicht sagen bei den 570 km von Hamburg. Sie hatte vieles
verschenkt, da sie nicht den gesamten Inhalt ihrer Zweizimmerwohnung in ihrem
neuen WG-Zimmer unterbringen konnte. Aber ein normaler Kleinbus hätte dennoch
nicht gereicht, schließlich wollte sie wenigstens ihre Bücherregale, den
Sekretär ihrer Großmutter und das
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