Die Prinzen von Queens - Roman
vierundzwanzig Stunden, angesichts der Tatsache, dass er derjenige ist, der Isabel im Stich gelassen, sie zigtausendfach im Stich gelassen hat, nicht nur darin versagt hat, sie zu beschützen, seine einzige Verantwortung im Leben, sondern im Grunde den Missbrauch erst ermöglicht hat, indem er Tariq zu Hause abgesetzt hat, vor der Tür, statt vor Budd’s Bar oder Gianni’s Pizzeria oder BQE Billiards oder einem der Dutzenden von Stripclubs auf dem Queens Boulevard, seine Schlüssel freiwillig herausgerückt hat, nicht zu Hause angerufen hat, um sie zu warnen, sondern sie schutzlos zurückgelassen und damit das Leben zerstört hat, das sie sich beim spätnächtlichen Ich wünschte Runde um Runde ausgemalt haben … denn jetzt kann nichts mehr so sein wie früher, nicht mit diesem grauenhaften Etwas zwischen ihnen, ihrem Mund voller Blut, den Händen seines Bruders, Christian Louis, der in der Gebärmutter kauert … angesichts all dessen würde Alfredo die Dose am allerliebsten sich selbst ins Gesicht schlagen. Seine Arme zittern. Er fühlt sich hilflos und benommen, ertrinkt wie immer in einer Flut mit sich selbst hadernder Gedanken, Bilder, Fantasien und Träume, und er muss das Denken dringend einstellen, genau genau genau, er muss das Denken einstellen und auf seinen Körper hören, denn auch wenn Alfredo seinen Bruder und sich selbst verletzten will, will sein Körper eigentlich bloß nach Hause. Mehr nicht. Isabel spuckt Blut, und Alfredos Körper will ihr ein kühles Glas Wasser an die Lippen führen.
Er rennt los. Dreht seinem Bruder den Rücken zu und rennt, ein Körper in Bewegung, im Flug. Wind bläst ihm in die Ohren. Er kommt aus dem Nichts, dieser Wind, kommt einfach so aus dem Qualm und der abgestandenen Kellerluft. Je schneller er läuft, um so lauter heult er. Er hält auf den Schlund der Treppe zu. Die Suppendose fest in der Hand – sie ist nun Teil seines Körpers, falscher Moment, sie wegzuwerfen –, nimmt er drei Stufen auf einmal. Sein Bruder stürmt hinter ihm her. Es ist Tariq, der da heult, nicht der Wind. Er klingt nah. Klingt erregt. Ihre Füße bearbeiten die Treppenbohlen, Tariq in Turnschuhen, Alfredo in seinen grauenhaft rutschigen Bowlingtretern.
Drei Stufen bevor er oben ist, stolpert er. Er fängt den Sturz mit ausgestreckten Armen auf, und beim Aufprall explodiert die Suppendose, versprüht Hühnerbrühe, ein Minigeysir, ihm mitten ins Gesicht. Sie dringt ihm in Nase und Mund. Seine Jeans zerreißt an den Knien.
Die Männer im Keller jaulen auf. Alfredo ist gestürzt, und seine Freunde lassen einen kollektiven Aufschrei des Mitgefühls hören. Aber damit hat es sich auch schon. Das Gesicht auf die Stufen gedrückt weiß Alfredo, dass niemand kommen und ihn retten wird. In die Rufe der Männer mischt sich freudige Erregung. Sie sind Zuschauer, keine Beteiligten, und sie haben lange auf diese Abrechnung gewartet.
Tariq packt Alfredo an den Knöcheln und reißt ihn die Stufen hinunter. Er kann nirgends hin, und niemand kommt ihm zu Hilfe. Die Stufen bohren sich in Alfredos Wange, in die Rippen, in den Plastikbügel seiner Brille. Tariq brummt. Seine Hände verströmen Hitze, als sie auf Alfredos Rücken Kreise beschreiben, auf der Suche nach der richtigen Stelle. Er haut Alfredo hart in die Niere. Ruhig bleiben, nicht bewegen. Schmerz zu zeigen wird Tariq bloß anstacheln, und außerdem hat Alfredo Angst, dass sein Bruder, wenn er den Mund aufmacht, versuchen wird, die Bordstein-Nummer abzuziehen: ihn zwingen wird, in einen Stufe zu beißen und ihm dann auf den Hinterkopf treten. Tariqs Atem riecht süßlich, wie Schokolade. Erneut haut er Alfredo in die Niere, dem die Luft wegbleibt. Aber wieder schreit Alfredo nicht. Er konzentriert sich auf einen quergemaserten Teil der Stufe über ihm. Als ihn ein dritter Schlag trifft, füllt sich seine Blase mit Blut, und er spürt eine klebrige Wärme in den Weichteilen, spürt, wie sich alle Sehnen im Nacken spannen, aber er schreit nicht. Tariqs Brummen wird lauter, dunkler. Er packt Alfredo an den Haaren und hievt ihn am Bund seiner Jeans hoch, und das ist Alfredos Chance. Er tritt nach hinten aus, und trifft – ja was? Die Stufe unter ihm? Das Knie seines Bruders? Er weiß es nicht. Er tritt und trifft etwas Hartes und stößt sich davon ab. Tariqs Hände greifen nach seinem Rücken, nach den Zwillingshöckern seiner Schulterblätter, aber da ist kein T-Shirt, in dem man sich festkrallen könnte, und Alfredo kommt auf die Füße,
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