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Die Prinzen von Queens - Roman

Die Prinzen von Queens - Roman

Titel: Die Prinzen von Queens - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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auf einem Bahnsteig gestanden hatte und dann, während hinter ihm die Züge vorbeipfiffen, zum allerersten Mal ein Mädchen geküsst hatte. Aber er hatte Angst. Er fürchtete, Misha würde das Geständnis zu vertraulich, zu weibisch finden. Fürchtete, Misha würde denken, er habe viel zu lange gebraucht, um sich seinen ersten Kuss abzuholen. Fürchtete, Misha könnte nach Vickis Hautfarbe fragen. Denn auch wenn sie keine Schwarze war, war sie doch schwarz, und Vladimir wusste, dass das eine Enttäuschung für seinen Bruder sein würde. Und sollte Misha fragen, konnte er nicht lügen. Er konnte seinen Bruder beklauen und ihn gelegentlich in Gedanken zur Hölle wünschen, aber belügen konnte er ihn nicht, nicht mal im Dunkeln. Genausowenig konnte er ihn enttäuschen. Also sagte er gar nichts. Bedrückt ging er zu Bett. Er erzählte seine Geschichte nicht, und das machte den Kuss irgendwie weniger real.
    A ber jetzt erzählt Vladimir Misha alles. Er liegt in einem anderen Bett, einem Krankenhausbett, mit Verletzungen, die offenbar Folge stumpfer Gewalt sind, als hätte er einen Autounfall gehabt oder wäre mit einem Stahlrohr zusammengeschlagen worden: gebrochene Rippen, unfairerweise auf beiden Seiten des Brustkorbs, geprelltes Brustbein, Splitterbruch in der linken Hand, weil er versucht hatte sich zu verteidigen, und, am schlimmsten, ein gebrochener Kiefer, den die Ärzte mit Draht fixieren mussten. Er wird die nächsten Monate nur Brei essen können, aber zumindest kann er sprechen. Mit einer Stimme, die sich seltsam für ihn anhört – langsamer, tiefer, weiter weg –, erzählt Vladimir seinem Bruder alles: von dem Kuss, dem E-Beeper, den Air Jordans, den verschwommenen Umrissen seiner Mutter. Mit einem verdrahteten Kiefer zu sprechen tut gar nicht so arg weh, Weinen aber schon, und sein ganzer Körper zuckt bei dem Versuch, damit aufzuhören.
    Misha legt sich zu ihm ins Bett. Eine Schwester mit Pferdeschwanz erscheint in der Tür, aber Misha schickt sie mit einer Handbewegung weg. Er legt die Arme um den Körper seines Bruders. Er greift das Krankenhausnachthemd, dieses fadenscheinige Teil, mit den Fäusten. Er würde Vladimir gerne füttern. Er würde gerne seine Schulterblätter, diese empfindlichen Flügel, spüren. Aber es gibt die Anweisungen der Ärzte. Wegen der gebrochenen Rippen muss Vladimir flach auf dem Rücken liegen.
    »Psst«, sagt Misha. »Ich hab dich lieb. Okay? Du bist mein Bruder. Ich hab dich lieb.«
    Später im Leben, wenn Vladimir an seinen Bruder denkt – was jeden einzelnen Tag der Fall sein wird –, wird er oft an diesen Moment zurückdenken. Er wird sich im Pausenraum des Instituts eine Tasse bitteren Kaffee einschenken und ganz plötzlich die Phantomarme seines Bruders spüren, die sich um seinen Körper legen.
    »Für mich kannst du gar nichts falsch machen«, sagt Misha. »Verstehst du? Wir laden das Mädchen zum Abendessen ein. Würd dir das gefallen?«
    »Ich werde sie nie wieder küssen können«, sagt Vladimir. Weil er den Mund kaum aufkriegt, kommen die Worte gedämpft hervor. »Sie wird mich so nie wieder küssen wollen.«
    Um nicht noch fester zuzudrücken, löst Misha die Umarmung. Seine Hände – noch feucht, weil er sie kurz zuvor geschrubbt hat – schweben über Vladimirs Körper, unsicher, wo sie landen sollen. Wohin damit? Wenn die Rippen des Bruders gebrochen sind und der Brustkorb geprellt ist, wenn er kaum atmen kann, sein Kiefer fixiert und seine Hand bandagiert ist, wohin dann mit den Händen? Was kann man tun, ohne dass der Schmerz noch schlimmer wird? Misha reibt Vladimirs Armbeuge. Er lässt alle seine Liebe in diese eine Stelle des brüderlichen Körpers fließen, und allem anderen gegenüber, dem Rest der Welt und den Menschen darin, empfindet er nur einen unaussprechlichen Zorn.

10
Abteilung Kopfzerbrechen
    Alfredo und Tariq drücken die schwere Glastür des Bowlingcenters auf, und ein Luftsack drückt zurück, als wollte das Gebäude sie nicht haben. Das geht in Ordnung. Alfredo will auch nicht hier sein. Der Teppich riecht nach Zigaretten und Hühnerfett. Kugeln treffen auf Kegel mit der donnernden Eintönigkeit eines Arbeitstrupps Strafgefangener, die am Straßenrand Steine pulverisieren. Die Kugeln hier leuchten nicht im Dunkeln wie in den Schicki-Micki-Bowlingcentern in Manhattan. Hier existiert kein Dunkel. Jede Glühbirne in jeder Fassung brennt hell, produziert das unheimliche orangefarbene Licht von Fast-Food-Wärmelampen, und unter der

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