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Die Prinzen von Queens - Roman

Die Prinzen von Queens - Roman

Titel: Die Prinzen von Queens - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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unappetitlich finden, aber an diesem Nachmittag in der Queens Center Mall stellte Vladimir fest, dass er nicht dazugehörte.
    Er begleitete sie nach Hause, und vor der Tür legte sie ihm eine Hand an die Wange, so als hätte sich die Stadt plötzlich verdunkelt und sie müsste überprüfen, ob er noch vor ihr stand. »Ich mag dich«, sagte sie.
    »Ich mag dich auch.«
    Los, du Idiot. Küss sie.
    Er tat es nicht. Ging nach Hause, voller Liebe und Selbsthass. Am nächsten Tag gingen sie zusammen ins Kino. Am Tag darauf ins Hallenbad am Northern Boulevard. Am Tag darauf durfte sie nicht raus, weil sie einen Algebra-Test vermasselt hatte, also telefonierten sie drei Stunden lang. In den Tagen danach gingen sie wieder in die Mall, schauten sich noch einen Film an, aßen Pizza und saßen auf einer Bank im Travers Park mit gutem Blick auf die Hand-Ball-Felder. Und noch immer hatten sie sich nicht geküsst. Jede Minute, die es nicht passierte, rückte Vicki und Vladimir weiter in Richtung schnöder Freundschaft. Zu Hause starrte Vladimir in den Spiegel und fragte sich, ob er sich die Haare wie Misha schneiden lassen sollte, ob ihn vielleicht das für Vicki unwiderstehlich machen würde, denn Vladimir war ganz offenkundig unfähig zu diesem ersten Schritt, denn er war ein rückgratloser, schwanzloser, arschkriechender Verlierer. Am Donnerstag, den 13. Juni 2002, brachte Vladimir Vicki wieder einmal zur Tür und packte es wieder nicht, sie zu küssen. Dieses Mal jedoch ging sie nicht ins Haus. Stattdessen drehten sie um, und sie brachte ihn zur Subway-Station, wo sie mit ihm durch die Sperre ging – wie er besaß sie eine Schüler-MetroCard, weshalb das Ganze sie nichts kostete, aber trotzdem! – und mit ihm auf dem Bahnsteig stand, ihm Gesellschaft leistete, bis sein Zug kam.
    Sie sagten nicht viel. Von tief unten, durch die Gummisohlen ihrer Schuhe, spürten sie bereits das erste ferne Rumpeln des herannahenden Zuges. Vladimir trat zu der gelben Sicherheitslinie vor, lehnte sich über die Gleise und spähte in den Schlund des Tunnels. Das Rumpeln wurde lauter. Auf den Schienen zuckten nervös die Zeitungsblätter und Magazinseiten. Die Luft veränderte sich. Noch immer war kein Zug zu sehen, aber schickte sein Licht auf den Wänden bereits voraus.
    Vladimir entschied, dass er lieber zu den Männern gehören wollte, die versuchten, eine Frau zu küssen und einen strike out fabrizierten, als zu jenen, die es erst gar nicht versuchten. Er befeuchtete seine Lippen und drehte sich zu Vicki, die den Mund bereits geöffnet hatte.
    Sie schmeckte, wie sie roch, nach Ingwer und Sahne. Mit einem Klick stieß er gegen ihre Zähne. Er spürte die glatte Unterseite ihrer Zunge. Mittendrin fiel den beiden ein, dass man die Augen zumachte. Es war für beide der erste Zungenkuss, und da sie nicht wussten, wann es den zweiten geben würde, konnten sie gar nicht wieder aufhören. Irgendwann jedoch ging ihnen der Sauerstoff aus.
    Der Zug war eingefahren, der E-Express. Die Türen hatten sich geöffnet, die Pendler waren ausgestiegen.
    »So«, sagte Vladmir. Auf Hüfthöhe öffneten und schlossen sich seine Hände, schnappten ins Nichts. »Wir sehen uns, nehme ich an.«
    Sie lächelte und rannte die Stufen hoch.
    Objektiv betrachtet, war es sicher nicht der beste Kuss der Welt gewesen. Aber das erzählt man Vladmir lieber nicht. Oder vielleicht doch. Man sollte ihm sagen, dass Küssen wie die meisten Dinge durch Übung besser wird. Ihm das sagen und mal gucken, was passiert. Denn als der E-Express in Richtung Manhattan schlingerte, konnte Vladimir kaum die Füße stillhalten. Wäre er hochgehüpft – hätte nur einen kleinen Freudensatz gemacht, mehr nicht –, dann wäre Vladimir durch das Dach des Waggons gekracht, durch die Schächte, an den Ratten vorbei, den Molemen und Morlocks, und dann in den East River, der Queens von Manhattan trennt, und hätte in dem trüben schwarz-grünen Wasser noch mal richtig den Turbo gezündet, mit den Beinen gestrampelt und mit den Händen die steroidalen Flossen radioaktiver Fische abgeklatscht.
    Er wollte so schrecklich gern seinem Bruder davon erzählen. Trotz des vielen Geldes, das Misha besaß, teilten sie sich noch immer ein Zimmer, zwischen ihren Betten war vielleicht gerade mal ein knapper Meter Abstand. In dieser Nacht, nachdem sie das Licht ausgemacht hatten, versuchte Vladimir, den Mut zu fassen, seinem Bruder zu berichten, wie er erst ein paar Stunden zuvor in die Erde hinabgestiegen war und

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