Die Probe (German Edition)
schauerlich glasigen, offenen Augen, die nirgendwo hinschauten und doch alles zu sehen schienen, den zu Fäusten verkrampften Händen und dem blau angelaufenen Gesicht mit dem weit geöffneten Mund, der noch ein letztes Mal nach Luft zu schnappen schien. Charlie sollte sich sein ganzes Leben lang an diesen Anblick erinnern: den ersten Toten, jämmerlich verendet wie ein Fisch auf dem Trockenen, nicht friedlich eingeschlafen mit der Vorfreude aufs Paradies im Gesicht. Die beiden Jungen wussten nicht was sie tun sollten, aber sie ertrugen den schrecklichen Anblick nicht länger und verließen die Stube mit weichen Knien, geräuschlos, um keine bösen Geister zu wecken. In Ryans Zimmer hockten sie sich nebeneinander aufs Bett, warteten wortlos auf die Rückkehr der Mutter, die sicher Hilfe holte. Erst Jahre später begriff Charlie, was wirklich geschehen war an diesem Abend. Der Big Pit, die große Kohlengrube im Westen, die zu ihren Glanzzeiten fast jeden zweiten männlichen Einwohner des Städtchens beschäftigte, hatte ihren Tribut gefordert. Wieder einer der hart arbeitenden Kumpel hatte an diesem Abend mit seinem Leben für die Gnade bezahlt, dort arbeiten zu dürfen. Zuviel des tödlichen, feinen Staubs hatte sich über die Jahre in seinen Lungen festgesetzt, ihm buchstäblich die Luft abgedreht. Später, als die Schutzmassnahmen wirksamer wurden, war der Kohleboom auch schon vorbei. Die endlich gezähmte Zeche musste geschlossen werden.
KAPITEL 2
Rio Madeira, Amazonas
S chlagartig versetzte ihn der Anblick des gigantischen Kraters zurück an jenen Sommertag in Wales, an dem sein Jugendfreund nur um Haaresbreite dem Tod entwischt war. Charlie Conway stand am Rand des hässlichen Lochs, das die Bagger der Minengesellschaft tief in die sanften Hügel der üppig grün überwucherten Flusslandschaft des Rio Madeira gefressen hatten. So hatte er seinerzeit oft mit Ryan zwischen den Ginsterbüschen oben an der Lehmgrube gestanden, den Betrieb beobachtet und ungeduldig gewartet, bis die Luft rein war und ihre Abenteuer in der unbewachten Ziegelhütte beginnen konnten. Fast achtundzwanzig Jahre waren inzwischen vergangen. Aus dem bleichen Knaben mit den abstehenden Ohren, dem nachdenklichen Blick und dem strengen Bürstenschnitt war ein selbstsicherer, erfahrener Geologe geworden, der entschlossen gegen alle Arten von Umweltsündern vorging, am liebsten mit seinem breitkrempigen, schwarzen Schlapphut auf dem roten Kraushaar. Er arbeitete schon seit vielen Jahren für die UNEP, das United Nations Environment Programme, die Organisation innerhalb der UNO, welche die globale Entwicklung der Umwelt genau beobachtet, Probleme aufdeckt und zusammen mit den verantwortlichen Regierungen zu lösen sucht. Als Inspektor war er eine Art Agent, der sich auf die Aufdeckung industrieller Umweltsünder rund um den Globus spezialisiert hatte. Ein einsamer Wolf, dauernd auf Achse, hartnäckig, hart im Nehmen und er liebte seinen Job. Oft, wenn er an der Sisyphusarbeit verzweifeln wollte, sah er das schreckliche blaue Gesicht von Ryans Vater vor sich, der qualvoll an seiner Staublunge verenden musste, weil profitgierige und gewissenlose Industriebarone rücksichtslos Bodenschätze ausbeuten ließen, ohne sich um die Konsequenzen zu kümmern. Was damals in seiner Heimat geschehen war, erschien ihm jetzt allerdings vergleichsweise harmlos, nach allem, was er in den letzten Jahren erleben musste. Es brannte an allen Ecken und Enden, aber aufgeben und die Hände in den Schoß legen war keine Option. Je stärker der Druck wurde, desto entschlossener kämpfte er weiter, manchmal an mehreren Fronten zugleich.
Eigentlich sollte er auch jetzt nicht hier am Rand dieser Goldmine im Amazonasdschungel stehen, sondern ziemlich genau am anderen Ende der Welt. Sein Auftrag lautete, dem Energieriesen Saitou Energy Corporation auf die Finger zu schauen. Der Konzern mit Hauptsitz in Osaka stand im Verdacht, gefährliche Industrieabfälle in großem Stil in illegalen Deponien und ins Meer zu entsorgen. Wie immer hatte er alle verfügbaren Dokumente und Hinweise gründlich studiert, und dabei war ihm etwas aufgefallen, das ihn wie elektrisiert auffahren ließ, als er es las. Der Name eines militanten Umweltschützers, der sich mit einer Niederlassung der Saitou Mining, einer Tochter von Saitou Energy, angelegt hatte: Ryan Hogan. Obwohl Charlie seinen Freund seit langem aus den Augen verloren hatte, konnte es sich nur um ihn handeln. Er hatte sich nach
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