Die Probe (German Edition)
erschraken mindestens so sehr wie er über diese unerwartete Begegnung. Sie zuckten zusammen und stießen unverständliche, spitze Schreie aus. Charlie winkte sie freundlich heran und hoffte inständig, ihnen erklären zu können, was er hier suchte. Seine Bedenken waren unbegründet. Die jungen Indianer beherrschten das brasilianische Portugiesisch besser als er, dank der vielen Touristenboote, die vor allem während der trockeneren Monate hier vorbeikamen. Sie waren auf dem Heimweg von einer Vogeljagd, wie er unschwer erkennen konnte, als er ins Kanu stieg.
Die beiden führten den seltsamen Fremden schnurstracks zum Ältesten der Sippe, einem kleinen Mann mit unglaublich zerfurchtem Gesicht, der allein in einer der Hütten saß. Er glich einer vertrockneten Mumie und verstand kein Wort von dem, was Charlie sagte. Mit einem kurzen Ruf befahl er einen jüngeren Mann herbei, der offenbar als Übersetzer diente.
»Ich bin auf der Suche nach zwei weißen Freunden, die vielleicht hier vorbeigekommen sind«, begann Charlie. »Vielleicht ist ihnen etwas zugestoßen, und sie brauchen Hilfe.« Er wollte Ryan beschreiben, doch der Alte unterbrach ihn sofort und redete lebhaft auf den Übersetzer ein.
»Ich soll Ihnen vom Kranken berichten.«
»Ein Kranker?«
»Ja, ein Weißer, Engländer. Er ist vor einigen Tagen völlig erschöpft von unseren Leuten aufgegriffen worden. Er hat starkes Fieber und redet wirres Zeug.« Charlie stutzte.
»Heißt das, er ist noch hier?« Der Übersetzer wandte sich wieder an den Alten, bevor er antwortete:
»Ja, ich soll Sie zu ihm führen. Kommen Sie.« Aufs Äußerste gespannt betrat Charlie die Hütte. Würde er seinen alten Freund Ryan hier finden? Der Übersetzer trat zur Seite, und er sah zu seiner großen Enttäuschung, dass ein Unbekannter in der Hängematte vor ihm lag. Er hatte rote, entzündete Augen, offensichtlich hohes Fieber und zitterte hin und wieder, Schüttelfrost. Charlie war kein Mediziner, aber er glaubte, typische Symptome des Dengue-Fiebers zu erkennen, das hier weit verbreitet war. Man hatte ihm Pflanzenwickel um die Füße und Stirn gelegt. Der Mann hatte große Mühe zu sprechen, aber nach mehreren Anläufen gelang es ihm doch, seine Geschichte zu erzählen. Sein Name war Jerry Mulligan. Er war der zweite Mann, der zusammen mit Ryan die Mine aufgesucht hatte mit den erdrückenden Beweisen, die sie in mühsamer Kleinarbeit gesammelt hatten. Sie waren mit dem Schlauchboot unterwegs, als sie plötzlich von einer Strömung mitgerissen wurden und hart gegen einen Felsvorsprung prallten. Das war das Letzte, woran er sich erinnerte. Er war erst wieder hier in der Hütte aufgewacht. Wo Ryan und das Boot geblieben waren, wusste er nicht. Charlie verlor die Hoffnung, seinen Freund lebend wiederzusehen, aber die Suche musste weitergehen. Er wollte zurück nach Manaus, Leute und Material organisieren. Der kranke Mulligan musste zurück transportiert werden, und er würde das Unterste zuoberst kehren, bis er Gewissheit über Ryans Schicksal hätte.
Zürich
»Höchste Zeit, Fran«, rief jemand durch den Türspalt. Francesca Bassi stand am Fenster ihres Büros und wartete ungeduldig auf den Druck der letzten Seiten ihres Kundendossiers. Meier 2, sie hasste diesen kleinkarierten Buchhalter, der ihren Namen nie ganz aussprechen konnte, sie hasste diese Sitzungen am späten Freitagnachmittag, und vor allem hasste sie die Aussicht auf das kommende triste Wochenende. Michael hatte sie aalglatt abblitzen lassen, als sie ihn auf die Konferenz begleiten wollte, als wäre sie eine kleine, unbedeutende Investorin seines Hedgefonds und nicht die langjährige Geliebte. Der Blick über die in milder Frühlingssonne glänzenden Dächer der Zürcher Altstadt mit den charakteristischen Doppeltürmen des Großmünsters, der trägen Limmat und dem Seebecken im Hintergrund ließ sie kalt. Es war keine gute Woche, und nun sollte sie auch noch in einem Desaster enden. Der Drucker schwieg. Sie nahm die Papiere aus dem Fach und machte sich auf den Weg ins Allerheiligste der diskreten Privatbank Escher, von Moos und Partner im obersten Stockwerk des alten Patrizierhauses. Durch die Sicherheitsschleuse verließ sie den profanen Seitenflügel, in dem sich die Büros der Berater befanden und betrat den Kundenbereich durch eine mit kostbaren Intarsien verzierte Tür aus edlem Nussbaum. Als hätte sie ein Zeittor durchschritten, wähnte sie sich jedes Mal in die Welt der Zürcher Feudalherren
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