Die programmierten Musen
man eine wunderschöne Statue von verschiedenen Seiten ansehen möchte und sich womöglich zum Be schauen noch eine vierte Raumdimension hinzuerfin den würde, wenn das möglich wäre. Heute muß ich geste hen, daß mich die ganze Sache einfach langweilt. Möglicherweise hat mein körperlicher Zustand – oder das Fehlen eines solchen – damit zu tun. Aber es depri miert mich besonders der Gedanke, daß die Menschheit nach hundert Jahren noch immer Ersatzanregungen und Un artigkeiten sucht, die in Wirklichkeit nur eine verleugnete und projizierte natürliche Neugierde sind.
Überhaupt«, fuhr Doppel-Nick fort, »wenn Sie wirklich wollen, daß wir Liebesgeschichten produzieren, möchte ich doch mal Ihre Aufmerksamkeit auf die Anreize hinweisen, die Sie uns dazu geben – oder vielmehr das Fehlen dieser Anreize: Wir sind jetzt über hundert Jahre lang in einem Hinterzimmer einge schlossen gewesen, und was zeigen Sie uns? Zwei Ver leger! Verzeihen Sie, Sirs, aber ich glaube wirk lich, daß Sie ein wenig mehr Phantasie hätten an den Tag legen sollen.«
Cullingham sagte kühl: »Ich möchte doch annehmen, daß sich gewisse Besuche arrangieren lassen, besonders in Häusern mit Voyeur-Gelegenheiten. Wie wär’s zu Anfang mit Madam N. Flaxy?« Schwester Bishop sagte vieldeutig: »Ihr alten Knilche könnt wohl nie genug bekommen?«, doch Flaxman schaltete sich gleichzeitig ein: »Du weißt, daß das nicht geht, Cully. Die Gehirne dürfen nur in dieses Büro gebracht und sonst nicht aus der Station genommen werden. Das ist Zukies erste Regel, auf die jeder Flaxman eingeschwo ren ist. Zukie hat uns noch vor seinem Tode gewarnt, daß zuviel Bewegung für die Gehirne lebensgefährlich ist.«
»Außerdem«, fuhr das Ei fort, ohne sich um die Kommentare zu kümmern, »wäre zu sagen, daß es mit dem Schreiben heute wirklich nicht sehr weit her ist – nach dem schrecklichen Zeug zu urteilen, daß Sie uns da aufgezwungen haben (auch wenn es sich nur um Ablehnungen handelt). Wenn Sie uns nun noch ein paar Wortmaschinen-Werke vorlesen würden, die Sie doch für so gelungen halten – wie Sie wissen, haben wir in unserer Zurückgezogenheit fast nur Sachliteratur und natürlich die Klassiker gelesen. Auch eine Regel des lieben alten Daniel.«
»Offen gesagt würde ich das lieber nicht tun«, erwiderte Cullingham. »Ich meine, Ihre eigenen Produkte fielen ohne Wortmaschineneinflüsse sicher viel frischer und lebendiger aus. Und Sie hätten mehr Spaß daran.«
»Halten Sie es etwa für möglich, daß uns das Wortschmalz – ein mechanisches Exkrement – in Minderwertigkeitskomplexe stürzen könnte?« fragte Doppel-Nick.
Gaspard verspürte plötzliche Wut. Er wünschte, Cullingham würde den dreien eine gelungene maschinelle Story vorlesen und es Doppel-Nick damit heimzahlen. Er versuchte sich an eine besonders tolle Wort schmalz-Stelle zu erinnern, um sie vorzutragen, an ei ne Passage aus einem der Spitzen-Maschinenbücher, die er kürzlich gelesen hatte – oder aus seinem eigenen Losung Leidenschaft. Aber sobald er seine Gedanken konkret aussandte, stieß er auf einen verwirrenden rosigen Nebel. Selbst aus seinem eigenen Buch konnte er nicht zitieren; er erinnerte sich nur an die Werbesprü che auf dem Umschlag. Er sagte sich, das müßte wohl so sein, weil jeder Satz des Textes gleichermaßen überragend war und einzelne Passagen nicht hervorstachen. Aber diese Erklärung befriedigte ihn doch nicht ganz.
»Nun, wenn Sie nicht mit offenen Karten spielen wollen«, sagte Doppel-Nick, »wenn Sie uns keine vollständige Übersicht gewähren wollen …« Das Ei beendete den Satz nicht.
»Warum sind Sie nicht erst einmal offen mit uns?« fragte Cullingham ruhig. »Zum Beispiel wissen wir nicht einmal Ihren Namen. Lassen Sie von der An onymität ab – eines Tages kommen Sie doch nicht darum herum.«
Das Ei schwieg ein Weilchen und sagte dann: »Ich bin das Herz des zwanzigsten Jahrhunderts. Ich bin der lebendige Leichnam eines Geistes aus dem Zeitalter der Verwirrung – noch immer getrieben von den Winden der Unsicherheit, die die Erde durchfuhren, als der Mensch zu den Geheimnissen des Atoms vorstieß und seiner Bestimmung zu den Sternen folgte. Ich bin Freiheit und Haß, Liebe und Angst, hohe Ideale und niedrige Gelüste, ein Geist, der täglich überschäumt und endlos zweifelt, gequält von seinen eigenen Schranken, ein Knäuel von Trieben, ein Elektronenwirbel. Das bin ich. Meinen Namen werden Sie niemals
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