Die Prophetin vom Rhein
Fuhrwerke mit der jüngsten Lieferung müssten Bingen bereits binnen weniger Tage erreichen.«
»Bingen!«, stieß Ada hervor. »Genau das ist auch unser Ziel. Das neue Kloster auf dem Rupertsberg …« Sie verstummte abermals, als fehle ihr die Kraft weiterzureden.
»Wir könnten Euch dorthin bringen, wenn Ihr wollt«, bot Adrian an. »Am Ufer nehme ich die Kleine auf mein Pferd, und Willem soll den Jungen bei sich aufsitzen lassen.«
»Ich danke für Euer freundliches Angebot!«, sagte Ada, auf einmal wieder Gräfin von Kopf bis Fuß. »Aber warum wollt Ihr das alles für uns tun?« Ihr Tonfall verriet erneut aufflackerndes Misstrauen.
»Wir sind gute Christen«, lautete van Gents Antwort, »die dem Vorbild Jesu nacheifern. Wieso esst Ihr nicht auch ein paar Bissen? Es ist doch mehr als genug für alle da!«
höre, Tochter, mich, deine Mutter, die ›im Geiste‹ zu dir spricht: Schmerz steigt in mir auf. Der Schmerz tötet das große Vertrauen und die tröstung, die ich in einem Menschen besaß. Von nun ab möchte ich sagen: Besser ist es, auf den berrn zu hoffen, als auf Fürsten seine hoffnung zu setzen. Der Mensch, der so auf Gott schaut, richtet wie ein Udler sein Uuge auf die Sonne. Und darum soll man nicht sein Uugenmert auf einen hochgestellten Menschen richten, der wie die Blume verweltt. hierin habe ich gefehlt aus Liebe zu einem edlen Menschen …
Hatte sie nicht soeben ein Klopfen gehört?
Hildegard schaute zur Tür, doch draußen blieb alles still. Erneut nahm sie ihre Lektüre wieder auf, die noch heute in ihren Händen zu brennen schien.
Nun sage ich wiederum: Weh mir, Mutter, weh mir, toch= ter! Warum hast du mich wie eine Waise zurüctgelassen? Ich habe den Udel deiner Sitten geliebt, deine Weisheit und deine Reuschheit, deine Seele und dein ganzes Leben, sodass viele sagten: Was tust du? Jetzt tönnen alle mit mir tlagen, die ein Leid tragen, wie ich es trage, die in der Liebe zu Gott dieselbe Liebe in ihrem herzen und Geist für einen Menschen fühlten, wie ich sie für dich fühlte - für einen Menschen, der ihnen ganz plötzlich entrissen wurde, so wie du mir entrissen wurdest …
Tränen füllten ihre Augen. Sie ließ die Abschrift ihres Briefes sinken, konnte sie nicht vollständig zu Ende lesen. Die Worte brannten ohnehin in ihrem Herzen, waren dort eingeätzt bis zum letzten Atemzug.
Was hatte sie nicht alles in Bewegung gesetzt!
Die Markgräfin und zwei Erzbischöfe zur Unterstützung angerufen, sogar den Heiligen Vater in Rom beschworen, die über alles geliebte Freundin auf den Rupertsberg zurückkehren zu lassen. Ganz zum Schluss dann eben diese Zeilen, in denen sie ihre Seele nach außen gekehrt und den letzten Stolz abgestreift hatte - leider ebenso vergeblich wie all ihre anderen Bemühungen.
Richardis war fort. Nichts und niemand auf der Welt würde sie ihr jemals zurückgeben.
Ihr Bildnis freilich würde Hildegard bis zum Ende aller Tage in sich tragen. Schmale, überraschend energische Hände.
Ein Lächeln wie ein Sonnenstrahl, das die Anmut des ernsten Gesichts erst zur Geltung brachte. Dunkles Haar, so widerspenstig, dass es sich kaum unter den Schleier zwingen ließ. Gewitterblaue Augen. Entschlossene Schritte, die Hildegard oft wie ein Tanz erschienen waren. Ein unbestechlicher Kopf, der auch vor riskanten Themen nicht zurückscheute. Und diese nahezu traumwandlerische Sicherheit in Grammatik, Rhetorik, vor allem aber in Latein, die sie immer wieder aufs Neue begeistert hatte! Ohne Richardis’ Beistand hätte Hildegard ihr großes Werk »Scivias - Wisse die Wege« niemals so rasch vollenden können.
Alles, alles an Richardis hatte sie geliebt!
Der Schmerz, sie verloren zu haben, wucherte wie ein Krebsgeschwür in ihr, stach und wütete, obwohl die junge Nonne den Rupertsberg bereits vor Monaten verlassen hatte. Und wenn auch die anderen frommen Schwestern sich eifersüchtig die Mäuler über sie zerrissen, weil ihre Liebe zu der viel Jüngeren das übliche Maß an Zuneigung unter den Ordensfrauen bei Weitem überstiegen hatte, bis heute donnerte der Hufschlag der Pferde, die Richardis nach Norden getragen hatten, als höllisches Getöse in Hildegard. Noch immer meinte sie, das hilflose Winken zu sehen, mit dem die andere sich im Sattel ein letztes Mal zu ihr umgedreht hatte.
Jetzt war das Klopfen nicht länger zu überhören.
Hildegard wischte sich die Augen trocken, straffte sich. Alle Schwestern auf dem Rupertsberg wussten, wie heilig ihr die
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