Die Prophetin vom Rhein
womöglich laut zu schnarchen beginnen. Morgen werde ich im Kapitelsaal meine Entscheidung verkünden - auch wenn ich dann nicht nur strahlende Mienen ernte.«
»Sie werden dir gehorchen, Mutter, da kannst du ganz gewiss sein. Selbst wenn es nicht allen gefällt und einige sich wieder heimlich beklagen werden.«
Hildegard strich sich mit der Hand über die Stirn.
»Ich schätze deine Offenheit, Hedwig, von jeher, und das weißt du. Allerdings wünsche ich künftig in Gegenwart von Dritten keine Widerworte mehr. Der erste Grad der Demut ist der Gehorsam. Auch das ist in den Regeln des heiligen Benedikt nachzulesen und gilt ausnahmslos für jede Schwester, für die ich als geistige Mutter zu sorgen habe.«
Hedwig neigte rasch den Kopf, um zu verbergen, wie bitter ihr Mund geworden war. Das dumpfe Geräusch des Schlagbretts erlöste sie, das alle Nonnen zur abendlichen Vesper rief.
Schweigend begaben sich beide Frauen auf den Weg zur Kapelle.
Warum hatte die Frau mit dem silbernen Kreuz auf der Brust sie so finster angeschaut?
Sie war die Magistra, die Erste und Oberste des Klosters, die alles zu entscheiden hatte. Ihr hatte die Mutter in fiebrigen Sätzen das ganze Elend entgegengeschleudert, bevor Hildegard die Kinder fast schon barsch aus dem Raum geschickt hatte, um mit der Mutter allein weiterzureden. Dass sie auf der Flucht waren, weil der Oheim sie um das Erbe betrogen hatte. Dass weder König noch Erzbischof
ihnen hatten helfen können. Und dass das Kloster auf dem Rupertsberg, wo Base Richardis lebte, für sie die allerletzte Zuflucht war.
Ob die Mutter ihr mehr sagen, alles verraten würde, jetzt, wo die beiden Frauen allein und ungestört waren? Theresa bezweifelte es. Und selbst wenn Ada bereit war, dieses Risiko einzugehen, so stand ihre Sache doch denkbar schlecht. Die hochwürdige Mutter wird uns nicht helfen, dachte das Mädchen. Sie mag mich nicht. Das spüre ich ganz genau. Dabei kennt sie mich doch gar nicht!
Theresa ließ den Löffel sinken. Die eingedickte Buchweizensuppe, die sie gerade noch heißhungrig verschlungen hatte, schmeckte plötzlich fade.
»Hast du etwa schon genug?« Gero schielte gierig auf ihren Napf. »Dann könnte ich doch …«
Theresa schob den Napf zu ihm. »Nimm schon«, sagte sie und hoffte, der Stein in ihrem Magen würde sich auflösen.
»Kann ich dein Brot auch haben?«, bohrte er weiter. »Ich meine nur, bevor die Schweine es bekommen?«
»Der arme Kleine muss ja regelrecht am Verhungern sein!« Clementia, die Küchenschwester, riss ihre kugelrunden Augen noch weiter auf und legte kurz die schwielige Hand auf Geros warmen Kopf. »Warte, mein Junge, du kriegst gleich noch einen ordentlichen Nachschlag. Und deine Schwester natürlich auch, wenn sie möchte.«
Eine ganze Anzahl von Nonnen hatte sich um die Kinder geschart, die am Eichentisch in der Klosterküche verköstigt wurden. Allerdings schienen die Sympathien unterschiedlich verteilt. Drei von ihnen umstanden Theresa, während der Rest sich mit teils begeisterter, teils skeptischer Miene um Geros Stuhl gruppiert hatte.
»Habt ihr denn gar kein Fleisch?«, erkundigte Gero sich unbefangen, noch bevor Theresa auch nur einen Mucks
machen konnte. »Ich werde nämlich bald ein Ritter sein - und Ritter müssen doch Fleisch essen, weil sie viel Kraft brauchen.«
Einige Schwestern lachten, als habe er einen köstlichen Witz gerissen. Es war zu spüren, wie sehr sie diesen ungewohnten männlichen Besuch in ihrer klösterlichen Abgeschiedenheit genossen, selbst wenn es sich nur um einen Naseweis von gerade mal elf Jahren handelte.
»Weißt du was, Gero? Ich hätte da vielleicht noch ein paar knusprige Hühnerschenkelchen«, sagte Schwester Clementia eifrig. »Eigentlich waren sie ja …«
»… für Donata bestimmt«, fiel Benigna ihr ins Wort. »Und die wird sie morgen auch bekommen. Gib diesem Nimmersatt stattdessen lieber ein Schälchen von deinem weißen Käse. Der macht auch ordentlich satt.« Während der Junge angesichts dieses Vorschlags wenig begeistert das Gesicht verzog, wandte die Nonne sich dem Mädchen zu. »Lässt du dir eigentlich immer von ihm die Haare vom Kopf fressen?«, fragte sie. »So etwas hätte ich meinen kleinen Brüdern niemals erlaubt.«
Theresa schaute sie sorgenvoll an. »Mutter ist immer noch bei der Magistra«, sagte sie. »Ist das ein gutes oder eher ein schlechtes Zeichen?«
Schwester Benigna zog die breite Nase hoch. »Das kann man bei der ehrwürdigen Mutter niemals so
Weitere Kostenlose Bücher