Die Prophetin
Lefevre hatte Catherine aufgefordert, sie ihm zu übergeben. Catherine hatte das abgelehnt. Sie versicherte ihm jedoch, es seien keine christlichen Dokumente und deshalb ohne Wert für die Kirche. Nach dieser Klarstellung zog er sich aus der ganzen Sache zurück.
Die sechs Schriftrollen aus dem Sinai hatte ihr bis jetzt niemand nehmen können. Im Augenblick wußte sie jedoch nicht, was mit den Texten geschehen sollte. Eine Möglichkeit wäre, Sabinas unvollständige Geschichte zu veröffentlichen. Oder sollte sie die Schriftrollen einfach behalten und für den Rest ihres Lebens nach der siebten suchen? Wäre es klüger, sie der ägyptischen Regierung zurückzugeben? Dann konnte es ihr vielleicht gelingen, ihren angeschlagenen Ruf zu retten…
»Und was wirst du tun?« hatte Catherine nach dem letzten Aufruf ihres Flugs Michael gefragt.
Er war vorübergehend von allen Pflichten suspendiert und wurde nach Montreal in ein Zisterzienserkloster geschickt, um seinen Glauben zu erforschen und über seine Berufung nachzudenken.
»Nach dem, was geschehen ist… ich weiß es nicht«, hatte er geantwortet.
Catherine fühlte sich innerlich leer, als sei in den vergangenen drei Wochen Tag für Tag etwas von ihr aufgezehrt worden, bis sie nur noch eine leere Hülle war.
Das tiefgreifende Erlebnis im Dom von Aachen war nur noch eine blasse Erinnerung. Nach den großen Hoffnungen hatte sich herausgestellt, daß Sabinas Geschichte nichts anderes erzählte als das abenteuerliche Leben einer Frau.
Ich sollte Julius anrufen und ihm sagen, daß ich wieder zu Hause bin.
Sie mußte ihm fairerweise gestehen, daß es wirklich keine siebte Schriftrolle gab. Aber sie konnte noch nicht mit ihm sprechen. Die Wunde, die er ihr mit seinen letzten Worten im Kloster zugefügt hatte (»Wenn ich jetzt aus diesem Zimmer gehe, werde ich nie mehr in dein Leben treten«), schmerzte immer noch.
Sie stellte das Gepäck ab und warf einen Blick auf den Stapel Post. Warum schickten ihr die Leute eigentlich Weihnachtskarten, wenn sie bei einer Ausgrabung war? Die Ausgrabung…
»Ich habe mit der ägyptischen Regierung deine Rückkehr vereinbart«, hatte Julius gesagt.
Im Aachener Dom hatte sie ihm alles verziehen. Sie hatte sich sogar selbst die Schuld gegeben. Aber hier in Santa Monica stellte sich das Gefühl, allein gelassen worden zu sein, mit aller Bitterkeit wieder ein. Catherine schüttelte unwillig den Kopf. Nur nicht daran denken. Bleib gefühllos. Lies die Weihnachtskarten, sieh dir die Rechnungen an, betrachte dir den Jahresbericht der Hausverwaltung, beschäftige dich mit dem Alltäglichen…
Ganz oben auf dem Stapel entdeckte sie ein kleines Päckchen. Es war in braunes Packpapier gewickelt, trug keinen Absender, aber sie sah amerikanische Briefmarken.
Neugierig öffnete sie es und hielt ein dünnes, italienisches Buch in der Hand. Weder ein Brief noch eine Karte oder eine Widmung verrieten, woher es stammte oder weshalb man es ihr geschickt hatte.
Ihr Blick fiel auf den Titel: »Sacre Grotte Y Scavi Sotto San Pietro – Die heiligen Grotten und die Ausgrabungen unter St. Peter.« Es war 1953 im Verlag des Vatikan erschienen: »Libreria Editrice Vaticana.«
Catherine blätterte verwundert darin. Die Schwarzweiß-Abbil-dungen weckten schmerzliche Erinnerungen, obwohl die Ausgrabungen in der Nekropole beim Entstehen der Aufnahmen noch nicht so weit fortge-schritten gewesen waren wie am Ende des Jahrtausends.
Catherine überlegte. Warum hatte man ihr das Buch geschickt? Von wem kam es?
Ihr Blick fiel wieder auf das Packpapier. Dann sah sie den Poststempel. Er war auf den Briefmarken kaum erkennbar. ›Vermont‹ konnte sie mit Mühe entziffern und dann das Datum. Das Päckchen war vor einer Woche abgeschickt worden. Genau an dem Tag, an dem sie aus dem Kloster geflohen war. Sie schlug das Buch wieder auf, blätterte es noch einmal durch und betrachtete aufmerksam die Abbildungen: Christus als Apollo, die Orante der Amelia Valeria. Gegen Ende befand sich eine Gruppenaufnahme der Archäologen.
Catherine trat ans Fenster, um die sieben Personen besser sehen zu können. Kein einziges Gesicht kam ihr bekannt vor. Dann las sie die Namen. Auch sie sagten ihr nichts. Bis auf… ›Gertrude Majors.‹
Catherine runzelte die Stirn. Wo hatte sie diesen Namen schon einmal gehört?
»Jetzt bin ich Mutter Elisabeth, aber bevor ich in den Orden eintrat… 1966 war ich…«, hörte sie eine Stimme. »Mein Gott«, flüsterte Catherine, und ihre
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