Die Prophezeiung der Nonne: Roman (German Edition)
herrschaftlichen Anwesen, doch Howard House war es nicht. Ich erinnerte mich, dass Norfolks Londoner Palast mindestens eine Meile vom Fluss entfernt war.
Ich folgte Norfolk und seinem Diener den gepflegten Weg entlang. Er war gesäumt von Bäumen, deren kahle Äste sich über unseren Köpfen zu einem Gitterwerk verflochten. Darunter war es beinahe stockfinster.
Als ich am Ende der Allee auf eine Lichtung hinaustrat, sah ich mich unversehens einer bleichen, starr blickenden Frau gegenüber. Ich wich mit einem Sprung zurück und stürzte auf den kalten Boden. Erst da erkannte ich, dass ich vor einer Statue erschrockenwar – vor dem weißen Marmorstandbild einer tanzenden Frau oder, vielleicht, eines Engels, der die Erde floh. In diesem Moment war ich versucht, ebenfalls die Flucht zu wagen. Der Herzog hatte den Torbogen vor uns schon durchschritten, ohne auf mich zu warten. Ich konnte mich im Wald verstecken oder zur Anlegestelle zurücklaufen.
Der kalte Nachtwind packte mich, und ich schauderte. Ohne Obdach für die Nacht, ohne die Möglichkeit, eins zu finden, würde ich erfrieren.
Mein Herz begann schneller zu schlagen, als ich durch den Torbogen in einen geschäftigen, von Fackeln erleuchteten Hof trat. Auf einer Seite standen mehrere Pferde, von einem halben Dutzend Reitknechten in Livree bewacht. Diese Männer gehörten nicht zum Hof des Herzogs von Norfolk, sie dienten einem anderen hochrangigen Edelmann. Zwei junge Dienstmädchen schritten mit glasierten Steingutkrügen durch den Hof.
Am Ende des Hofs erhob sich ein Palast mit einer großen Halle mit schrägem Dach und einem Kirchturm. Hinter den Fenstern aller drei Stockwerke schimmerte Licht, ein Zeichen, dass das ganze Gebäude bewohnt war. Doch von wem?
Norfolk eilte mit großen Schritten durch das Portal, das von dem Buchstaben ›W‹ gekrönt war. Richard winkte mir zu folgen und beeilte sich, mit seinem Herrn Schritt zu halten.
Drinnen gebot mir Norfolk zu warten, während er zu einem Raum ganz am Ende der langen Galerie eilte.
Ich ließ mich in den ersten Sessel sinken, den ich in der warmen Galerie entdeckte. Meine Füße begannen zu kribbeln. Der Duft süßer Kräuter stieg von den Binsen auf, die den Fußboden bedeckten.
In der Stille kam ich langsam wieder zu mir, und meine Neugier begann sich zu regen. Ein großes Gemälde, das Jesus Christus im Glanz strahlenden goldenen Lichts zeigte, fiel mir als Erstes ins Auge. Der Blick des Messias erfasste den Betrachter mit einer Direktheit, mit so viel liebender Klarheit, wie ich es noch nie auf einem Bild gesehen hatte. Es war, als blickte er mir unmittelbarin die Seele. Dieses unglaublich lebendige Werk musste in Rom gemalt worden sein, von einem der vom Heiligen Vater hochgeschätzten Meister. Das lebensechte Standbild im Park schien mir jetzt, da ich darüber nachdachte, von ähnlich genialer Hand gestaltet. Ich empfand eine tiefe Demut angesichts solch begnadeter Kunst. Das war einer der traurigsten Aspekte der Reformation – der Hass ihrer Verfechter auf die Kunstwerke der Menschen.
Ein junger Mann im Samtwams, mit einer Schriftrolle in der Hand, nickte mir im Vorübergehen zu. Gleich darauf hörte ich die gedämpften Stimmen zweier Männer, die ins Gespräch vertieft durch die Galerie schritten. An ihren Krägen und den dunklen Gewändern erkannte ich sie sofort als Priester. Als sie auf Richard stießen, entspann sich eine freundliche Unterhaltung mit ihm.
Was war das für ein Haus? Weder Schloss noch Kathedrale – und ganz gewiss kein Kloster, auch wenn zahlreiche religiöse Motive diese Galerie schmückten. Vielleicht war es der Sitz eines Kirchenfürsten. Eines Kardinals vielleicht. Aber es gibt keine Kardinäle mehr in England, sagte ich mir sogleich. Es würde nie wieder einen päpstlichen Abgesandten in diesem Land geben.
Ratlos richtete ich meinen Blick wieder auf das Gemälde. So unmöglich es schien, der Blick des Messias hatte sich verändert. Mir wurde kalt, als ich erkannte, was er jetzt ausdrückte: Mitleid.
Ein Bischof. Der Buchstabe ›W‹. Eine Person, die dem Herzog von Norfolk nahestand.
Dies war der Sitz des Bischofs von Winchester. Stephen Gardiner diente dem König nicht länger als Gesandter am französischen Hof. Gardiner, mein Erzfeind und Beherrscher, der Mann der Kirche, dem ich gegen meinen Willen Spitzeldienste geleistet hatte, war zurückgekehrt.
Ich sprang auf. Ich hatte keinen Plan – einzig Panik trieb mich. Und ein Wort: Weg. Weg. Weg .
»Miss
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