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Die Prophezeiung der Schwestern - 1

Die Prophezeiung der Schwestern - 1

Titel: Die Prophezeiung der Schwestern - 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Zink
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mich in diesen Tagen nach Vaters Tod nicht zu bedrängen. Es gibt keine damenhaften Worte, mit denen ich ihm klarmachen könnte, dass er mich bedrängen soll, so viel er möchte, dass sein Mund und sein
Körper, eng an mich gepresst, das Einzige sind, was mich an einer Realität festhalten lässt, die ich in den letzten Tagen zu verlieren drohte.
    »Ja, nun …« Er strafft die Schultern. »Schau her, ich habe meine Notizen zu dem Buch mitgebracht.«
    Er setzt sich auf den Felsen und ich mache es mir neben ihm bequem. Mein Rock knittert dort, wo er gegen den rauen Stoff seiner Hose reibt. Zusammen mit dem Buch zieht er ein gefaltetes Blatt Papier aus seiner Jackentasche. Er glättet es an seinem Oberschenkel und beugt den Kopf mit dem goldenen Haar über die schrägen Buchstaben seiner Handschrift, die das Blatt von oben bis unten bedecken.
    »Es ist eine uralte Geschichte, wenn man dem Buch Glauben schenken darf.«
    »Was für eine Geschichte?«
    »Eine Mär über Engel oder … Dämonen, glaube ich. Hier. Lies selbst.« Er lehnt sich auf dem Felsen zurück und schiebt mir das Buch und seine Notizen zu.
    Einen kurzen Moment lang will ich es nicht lesen. Ich frage mich, ob es eine Möglichkeit gibt, dieses Buch zu ignorieren. Einfach weiterzumachen wie bisher, so zu tun, als ob es nicht existiert. Aber dieser Gedanke ist nicht von Dauer. Noch während ich ihn denke, spüre ich, wie sich die Räder einer gigantischen, unsichtbaren Maschine weiterdrehen. Sie werden nicht aufhören, egal was ich tue. So viel ist gewiss.
    Ich richte meine Augen auf James’ Schrift, die mir Zuversicht
spendet und die sich auf so unerhörte Weise mit dem Schrecken der Worte vereinigt, die nicht die seinen sind.
    In Krieg und Eintracht erduldete
die Menschheit ihr Schicksal,
bis die Wächter kamen,
die Frauen der Menschen zu
Gemahlinnen und Geliebten nahmen
und sich so Seinen Zorn zuzogen.
Zwei Schwestern, erschaffen in demselben
wirbelnden Ozean,
die eine der Wächter, die andere das Tor.
Die eine Hüterin des Friedens, die andere Hexenkraft
für Hingabe eintauschend.
Ausgestoßen aus dem Himmel,
gingen ihre Seelen verloren.
Doch die Schwestern fahren fort mit ihrer Schlacht,
bis die Pforten ihre Rückkehr einfordern
oder der Engel die Schlüssel zum Abgrund bringt.
Durch die Pforten schreitet die Armee.
Samael, das Untier, durch den Engel.
Der Engel, bewacht nur
durch einen zarten Schleier.
Vier Zeichen. Vier Schlüssel. Ein Kreis aus Feuer.
Erschaffen in dem ersten Atemzug von Samhain,
im Schatten der Mystischen Steinschlange von
Aubur.
Wenn das Tor des Engels sich ohne Schlüssel öffnet,

folgen die Sieben Plagen, und es gibt kein Zurück.
Tod
Hungersnot
Blut
Feuer
Dunkelheit
Dürre
Zerstörung
Öffne deine Arme, Herrin des Chaos, auf dass die
Verwüstung des Untiers sich in Strömen ergießen
kann.
Denn alles ist verloren,
wenn die Sieben Plagen beginnen.
    Wieder muss ich mich über das Rätsel der einen Seite wundern. Ich weiß zwar nicht so viel über Bücher wie James, aber selbst mir ist klar, wie merkwürdig es ist, nur wegen einer einzigen Seite ein ganzes Buch drucken und binden zu lassen.
    »Ist das alles? Sollte da nicht noch etwas folgen? Aber da ist nichts, gar nichts nach diesen wenigen Zeilen. Mir kommt es so vor, als müsste da noch mehr sein, etwas, das erzählt, wie es weitergeht …«
    »Mir geht es ebenso. Hier, schau mal.«
    Er zieht das Buch nahe heran, sodass es zwischen uns liegt, halb auf seinem Bein und halb auf meinem. Dann blättert er die Seite um. »Sieh mal.« Er deutet auf die Stelle, wo die Seite auf die Bindung trifft.

    »Ich sehe nichts.«
    Er holt eine große Lupe aus seiner Tasche, reicht sie mir und biegt das Buch auseinander. »Schau genau hin, Lia. Man kann es kaum erkennen.«
    Ich richte die Lupe auf den Bereich, auf den er mit seinem Finger deutet, und schiebe mein Gesicht bis auf wenige Zentimeter an das Buch heran. Und da sehe ich die Reißspuren, so fein säuberlich, dass sie tatsächlich kaum zu erkennen sind. Es sieht so aus, als ob jemand mit einem Rasiermesser die Seiten aus dem Buch entfernt hätte.
    Ich schaue hoch. »Also waren da noch mehr Seiten!«
    Er nickt.
    »Aber warum sollte jemand Seiten aus einem so alten Buch herausreißen? Abgesehen von allem anderen ist es doch bestimmt wertvoll.«
    »Ich weiß es auch nicht. Ich habe schon oft Schäden gesehen, die man Büchern zugefügt hat, aber Seiten aus einer solchen Kostbarkeit herauszutrennen,

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