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Die Prophezeiung der Schwestern - 1

Die Prophezeiung der Schwestern - 1

Titel: Die Prophezeiung der Schwestern - 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Zink
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sich gerade hin, streicht ihren Rock glatt und schaut mich an. »Musst du so mürrisch dreinblicken, Lia? Ist es nicht schön, der Düsternis von Birchwood zu entkommen? Der langweilige Kasten läuft uns ja nicht weg.«
    Sie spricht die Worte gut gelaunt, aber ich höre die Anspannung in ihrer Stimme, erkenne die Maske, die sie aufgesetzt hat. Alice spielt mir etwas vor, eine Rolle, die sie gut einstudiert hat.

    Als Antwort lächle ich nur und warte, bis Edmund die Tür öffnet.
    »Miss.«
    »Danke, Edmund.« Ich bleibe auf dem Gehsteig stehen, bis Alice aus der Kutsche geklettert ist. Wie üblich macht sie sich nicht die Mühe, Edmund auch nur mit einem Wort zu bedenken.
    Er wendet sich zu mir. »Ich bin heute Abend wieder da, Miss.« Er lächelt nicht oft, aber jetzt tut er es, so leicht und flüchtig, dass ich mich frage, ob irgendjemand außer mir in der Lage wäre, es zu erkennen.
    »Ja, natürlich. Auf Wiedersehen, Edmund.« Ich eile hinter Alice her, die schon auf den Eingang von Wycliffe zumarschiert. »Du könntest wenigstens höflich sein, Alice.«
    Alice wirbelt herum und schenkt mir ein sorgloses Lächeln. »Warum denn? Edmund arbeitet seit Jahren für die Milthorpes. Glaubst du vielleicht, dass ›bitte‹ oder ›danke‹ ihm das Leben leichter machen?«
    »Vielleicht ein wenig angenehmer.«
    Der Streit ist nicht neu. Alice behandelt die Dienstboten von Birchwood ziemlich schlecht. Schlimmer noch, ihre Unhöflichkeit erstreckt sich auch auf die Familie, besonders auf Tante Virginia. Die Schwester meiner Mutter beklagt sich nie darüber, aber die Abneigung in ihrem Gesicht, wenn Alice sie wie ein besseres Kindermädchen behandelt, ist nicht zu übersehen.
    Alice seufzt gereizt, greift nach meiner Hand und zieht mich die Stufen zur Eingangstür hinauf. »Ach, um Himmels
willen, Lia! Beeile dich jetzt, ja? Wegen dir kommen wir noch zu spät.«
    Ich stolpere die Stufen hinter meiner Schwester hinauf. Dabei fällt mein Blick auf den Buchladen von Mr Douglas, der sich unterhalb des Schulgebäudes in einer Ladenreihe befindet. James ist drei Jahre älter als ich und hat seine Schulausbildung abgeschlossen. Ich weiß, dass er jetzt im Laden arbeitet, und wünschte, ich könnte die Tür öffnen und ihm einen Morgengruß zurufen, aber dazu bekomme ich keine Gelegenheit, denn Alice zieht mich bereits in die Eingangshalle der Schule. Sie schließt die Tür und reibt sich die behandschuhten Hände, um sie zu wärmen.
    »Himmel, es wird kalt!« Sie knöpft ihren Mantel auf und wirft mir, die ich unbeweglich dastehe, einen tadelnden Blick zu. »Mach schon, Lia!«
    Ich kann mir keinen Ort vorstellen, an dem ich in diesem Augenblick weniger sein möchte als in Wycliffe. Aber Edmund ist schon wieder nach Birchwood zurückgekehrt, also zwinge ich meine Hände, ihre Arbeit zu tun, und hänge meinen Mantel neben der Tür an einen Haken. Mrs Thomason kommt aus dem hinteren Bereich des Gebäudes auf uns zugeeilt. Auf ihrem Gesicht liegt eine Mischung aus Ärger und Nervosität.
    »Sie kommen zu spät zum Morgengebet, meine Damen! Wenn Sie sich beeilen, können Sie noch hineinschlüpfen, ohne Aufsehen zu erregen.« Sie versetzt mir einen kleinen Schubs in Richtung des Speisesaals, als ob sie wüsste, dass ich mehr Ermutigung brauche als Alice. »Und ich möchte
Ihnen mein herzliches Beileid zum Verlust Ihres Vaters aussprechen. Mr Milthorpe war ein guter Mann.«
    Ich folge Alice in den Speisesaal, wobei ich mich beeilen muss, um mit ihrem raschen, zielsicheren Gang Schritt zu halten. Durch die Türen klingen die Stimmen der anderen Mädchen beim Morgengebet wie ein düsterer Chor. Alice schiebt einen der schweren Türflügel auf und betritt, ohne zu zögern, den Saal. Sie gibt sich keine Mühe, leise zu sein, und ich habe keine andere Wahl, als ihr schüchtern und verschämt zu folgen. Ich frage mich, wie sie es schafft, ihren Kopf so hoch und den Rücken so gerade zu halten, wo sie uns beide doch so offensichtlich in Verlegenheit bringt.
    Miss Grays Stimme stockt, als Alice in den Saal marschiert. Ein Großteil der Mädchen schaut unter gesenkten Augenlidern zu uns hin. Alice und ich lassen uns auf unsere Plätze am Tisch gleiten und fallen in das Murmeln der anderen mit ein. Als alle das »Amen« gesprochen haben, öffnen sich dreißig Augenpaare und starren uns an. Einige versuchen, ihre Neugier zu verstecken, aber andere - wie Victoria Alcott und May Smithfield - beäugen uns mit unverhohlenem Interesse.
    »Alice, Amalia.

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