Die Prophezeiung der Schwestern - 1
ist ein Sakrileg.«
Schmerzhaft fühle ich den Verlust der Seiten, die ich nie gesehen habe. »Es muss noch eine andere Ausgabe dieses Buches geben.« Ich klappe es zu, drehe das Buch um und suche nach irgendwelchen Hinweisen auf den Verleger. »Selbst wenn das Buch nur ein einziges Mal aufgelegt wurde, müssen sich doch gewiss noch Exemplare bei dem Verleger befinden, nicht wahr?«
James presst die Lippen aufeinander, bevor er mir antwortet. »Ich fürchte, das ist nicht so einfach, Lia.«
»Was meinst du? Warum nicht?«
Seine Augen gleiten über das Buch, das immer noch in meiner Hand liegt, dann wendet er den Blick ab. »Ich … Ich habe dir das Merkwürdigste noch nicht erzählt. Über das Buch, meine ich.«
»Willst du damit sagen, dass es etwas noch Seltsameres ist als die Geschichte selbst?«
Er nickt. »Viel seltsamer. Hör zu, du weißt doch, dass Bücher normalerweise voller Hinweise sind, voller Spuren. Die Tinte, die Schrift, selbst das Leder und die Art der Bindung verraten uns, wo ein Buch herkommt und wie alt es ist. Beinahe alles, was man über ein Buch wissen muss, kann man erfahren, indem man das Buch selbst gründlich betrachtet.«
»Und? Woher kommt dieses Buch?«
»Genau das ist das Problem. Das Schriftbild, das benutzt wurde, ist sehr alt, aber es ist nirgends dokumentiert, soweit ich herausfinden konnte. Das Leder ist gar kein Leder, sondern irgendein anderes Material, das ich noch nie gesehen habe.« Er seufzt. »Ich kann keinen einzigen Hinweis auf seine Herkunft finden, Lia. Das ergibt überhaupt keinen Sinn.«
James ist unlösbare Rätsel nicht gewohnt. Ich sehe die Ratlosigkeit und die Verzweiflung in seiner Miene, aber ich kann ihm nicht helfen. Auch ich habe keine Antworten für ihn.
Im Gegenteil, ich habe sehr viel mehr Fragen, als er je für möglich halten würde.
Als ich vom Fluss zurückkomme, sitzt Henry allein vor dem Schachbrett im Salon. Der Anblick schnürt mir die Kehle zu, und ich versuche, mich zu fassen, ehe er mich bemerkt. Seine Tage werden leer und einsam sein, weil Vater nicht mehr da ist, um mit ihm vor dem Kamin Schach zu spielen oder zu lesen. Auch die Zerstreuung durch den Unterricht wird ihm von nun an versagt bleiben, denn Vater nahm Henrys Ausbildung in seine Hand und verbrachte Stunden damit, ihn in Fachgebieten zu unterweisen, die weit über das hinausgingen, was man gemeinhin für nötig hielt.
Auf dieselbe Art förderte unser Vater auch Alices und meine Ausbildung und führte uns in alle Bereiche der Mythologie und Philosophie ein. Unser Unterricht in Wycliffe, an dem wir zweimal pro Woche teilnehmen, war ein Kompromiss zwischen meinem Vater, der die Meinung vertrat, er könne uns eine bessere Ausbildung bieten als jede Schule, und Tante Virginia, die behauptete, wir bräuchten Umgang mit Mädchen unseren Alters. Alice und ich, die wir sechzehn Jahre lang die Unterweisungen unseres Vaters genossen haben, können jederzeit unsere Ausbildung in Wycliffe fortsetzen, aber was wird aus Henry?
Ich schlucke meine Sorge um seine Zukunft hinunter und trete mit gespielter Munterkeit in den Raum. Seine Augen leuchten, als ich ihn frage, ob ich ihm Gesellschaft leisten soll, und abwechselnd lesen wir aus der Schatzinsel vor. Ari liegt auf meinem Schoß und schnurrt, als ob er wüsste, dass ich Trost und Zuspruch brauche. Das einfache Vergnügen des Lesens lässt mich, wenigstens eine
Zeit lang, die Ereignisse vergessen, die mein Leben vereinnahmt haben.
Es ist noch früh, als wir zum Ende kommen, aber ich bin müde. Ich wünsche Henry eine gute Nacht und lasse ihn vor dem Kamin mit einem Buch allein. Ich bin schon auf halbem Weg die Treppe hinauf, als ich Alices Stimme in der Bibliothek höre. Obwohl dieser Raum allen Mitgliedern der Familie zur Verfügung steht, kann ich mich nicht erinnern, wann ich Alice dort zum letzten Mal gesehen habe. Meine Neugier gewinnt die Oberhand und ich kehre um. Alices Stimme ist so leise, dass ich glaube, sie spräche mit sich selbst. Aber dann merke ich, dass sie nicht allein ist. Zu ihrer Stimme gesellt sich das tiefere Timbre eines Mannes, und als ich die halb offen stehende Tür zur Bibliothek erreiche, erkenne ich überrascht James, der in einem hohen Sessel vor dem Lesetisch sitzt.
Es kommt selten genug vor, Alice in der Bibliothek anzutreffen, und noch seltener in ein vertrauliches Gespräch mit James vertieft. Bislang haben sie einen freundlichen, wenn auch distanzierten Umgang gepflegt, aufgrund der engen
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