Die Prophezeiung der Schwestern - 1
normale Menschen nicht begreifen, Dinge, von denen Sie und ich wissen, dass sie so wirklich sind wie die Welt, in der wir in diesem Augenblick stehen. Bücher über die Welt der Geister, über Hexerei und über die Geschichte der Zauberkraft. Also alles, was nicht in ordentliche Schachteln passt, würde ich sagen.« Sie geht weiter in den Raum hinein und scheucht einen Vogel auf, der zur Decke hinaufflattert und irgendwo über uns unserem Blick entschwindet.
Die plötzliche Bewegung löst den Erstarrungszustand, in den ich vor lauter Ehrfurcht gefallen bin. »Ich begreife nicht, was dieser Ort mit den Schlüsseln zu tun hat, Madame, obwohl ich zugeben muss, dass ich über alle Maßen beeindruckt bin. Mein Vater … Nun, er hätte vermutlich
einen Tobsuchtsanfall bekommen, wenn er dies hier zu Gesicht bekommen hätte.«
Lächelnd schaut sie mir in die Augen. »Dann bin ich überzeugt davon, dass ich Ihren Vater sehr gemocht hätte, mein liebes Mädchen.« Sie bedeutet uns, ihr zu folgen. »Was Ihre Frage betrifft, so glaube ich, dass uns ein alter Druidentext, über den ich hier schon einmal gestolpert bin, bei der Frage nach Samhain weiterhelfen könnte. Soweit ich weiß, bin ich die Einzige, die je hierherkommt. Ich vermute, dass der Text noch dort liegt, wo ich ihn zuletzt sah.«
Sonia und ich gehen hinter Madame Berrier durch das Kutschhaus, vorbei an Bücherhaufen, die mit Vogelkot und Schimmel überzogen sind. Wir steigen vorsichtig über alles, was im Weg herumliegt, und wären beinahe gegen Madame Berrier gestoßen, die unvermittelt vor einem der verbogenen und schiefen Regale stehen bleibt.
»Mal sehen … Ich glaube, es war hier irgendwo. Vielleicht das hier.. Nein, doch nicht. Vielleicht dort drüben.« Sie murmelt vor sich hin, als ob Sonia und ich gar nicht da wären, geht von einem Regal zum anderen, kehrt zu einem zurück, das sie schon einmal betrachtet hat, während wir nichts weiter tun können, als zuzusehen und abzuwarten. »Ah! Hier ist es! Wollen wir einmal schauen.«
Sie balanciert das Buch in einer Hand und blättert mit der anderen die Seiten um. Der Anblick der eleganten Dame inmitten all des Schmutzes und des Verfalls ist ungewöhnlich, zumal sie sich scheinbar ganz zu Hause fühlt. Ich werfe Sonia ein nervöses Lächeln zu und schweige, weil
ich Angst habe, den möglicherweise bedeutsamen Gedankengang zu unterbrechen, der mit Madames Gemurmel einherzugehen scheint.
»Ah! Ja, ja! Ich wusste es! Hier ist es! Kommen Sie her, meine Damen, und dann werden wir sehen, ob das hier eine Hilfe sein kann.« Wir raffen die Röcke und schlängeln uns durch den Schutt und die Bücherhaufen zu ihr. Als wir bei ihr sind, fängt sie an zu lesen. »Etwa seit dem Jahr 2300 vor Christus symbolisieren die Beltane-Feuer die Wiederkunft des Lichts, die freudig erwartete Rückkehr der Zeit, wenn die Tage voller Überfluss und die Nächte von Leidenschaft und neuem Leben erfüllt sind. Die Zeit des Lichts, oder Beltane, beginnt am 1. Mai und dauert sechs Monate, bis zu Samhain, der Zeit der Dunkelheit. Auf den Herbst und die Lichtfeier folgt die Dunkelheit, die sorgenvolle Jahreshälfte, in der Nacht und Düsternis regieren und der Schleier zwischen der irdischen Welt und der Anderswelt dünn und durchlässig wird. Samhain und die Zeit der Dunkelheit beginnen am 1. November.« Ihre Worte hallen im Kutschhaus wider. Es ist, als ob sie etwas Heiliges aussprechen würde, und schweigend stehen wir einen Moment lang beieinander, ehe Madame Berrier den Blick von dem Buch löst und fragt: »Sagt Ihnen das irgendetwas? Könnte das ein Hinweis auf die Schlüssel sein, nach denen Sie suchen?«
Ich schüttele den Kopf. »Ich glaube nicht. Mir jedenfalls sagt das alles gar nichts. Ich …«
»Das ist mein Geburtstag«, flüstert Sonia. »Das behauptet wenigstens Mrs Millburn.«
Ihre Worte helfen nicht, den Nebel in meinem Kopf zu lichten. »Du bist am 1. November geboren?«
Sie nickt. »Am 1. November 1874.«
Madame Berrier schaut so verwirrt drein, wie ich mich fühle. »Das könnte doch auch ein Zufall sein, oder?«
Ich kaue auf meiner Unterlippe herum und überlege, ob sie nicht recht hat. Ich setze mich auf einen wackeligen Stuhl und kümmere mich nicht um die Staubwolke, die sich erhebt, während ich die Enttäuschung niederzukämpfen versuche. All die Mühe, und gefunden haben wir so gut wie gar nichts!
»Nicht verzweifeln, Lia. Wir werden das Rätsel lösen, du wirst sehen.« Sonias Stimme ist ruhig und
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