Die Prophezeiung der Schwestern - 1
gelassen, und ich frage mich, wie sie so optimistisch sein kann, wenn ich selbst am liebsten irgendetwas an die Wand geworfen und vor Zorn und Enttäuschung gebrüllt hätte.
Ich schaue zu ihr hoch. »Aber wir wissen immer noch nicht, wo wir anfangen sollen, nach den Schlüsseln zu suchen. Das Datum … Nun, es ist ja ganz interessant, dass du am 1. November geboren bist, aber das sagt uns überhaupt nichts über die Schlüssel. Ich habe gehofft …«
»Was, meine Liebe?« Madame Berrier, die immer noch das Buch in der Hand hält, schaut mitfühlend zu mir hinunter.
»Ich weiß auch nicht. Ich denke, ich habe gehofft, dass Samhain irgendein Orientierungspunkt ist, eine Stadt oder eine Ortschaft oder … irgendetwas in der Art. Ich hoffte, es würde uns auf die Spur der Schlüssel bringen.«
Ich schäme mich, weil ich die Tränen in meinen Augen spüre. Es sind keine Tränen der Trauer, sondern der Frustration, und ich blinzle schnell, atme tief die staubige, feuchte Luft ein und bemühe mich um Haltung.
»Also schön«, sagt Sonia. »Wir werden diese Information einfach den anderen zufügen. Mit Samhain ist also eindeutig ein Datum gemeint. Vielleicht wird sich das später noch als wichtig erweisen. Dies ist ja nicht das Ende der Zeile, nicht wahr?«
Sie hat recht. Ich ziehe James’ Notizen aus meiner Tasche und lese sie im dämmrigen Licht des alten Gemäuers. »Nun, lass mich mal sehen. Ja, hier ist es: Erschaffen in dem ersten Atemzug von Samhain, im Schatten der Mystischen Steinschlange von Aubur. « Ich schaue zu Madame Berrier.
Sie streckt die Hand aus. »Darf ich?«
Ich zögere. Der Schock, den ich angesichts der Erkenntnis empfand, dass ich das Tor bin - und dann auch noch der Engel! -, haben mich jedem gegenüber misstrauisch werden lassen. Niemand ist, was er oder sie zu sein scheint. Weder Alice noch ich. Und auch nicht mein Vater, der mich all die Jahre beschützte, während ich ahnungslos in den Tag hinein lebte. Aber Madame Berrier will uns helfen, und es steht für mich fest, dass wir den Kreis der Eingeweihten vergrößern müssen, wenn wir eine Chance haben wollen, die Schlüssel zu finden.
Ich gebe ihr die Notizen. »Vielleicht können Sie darin ja einen Sinn erkennen.«
Sie senkt den Kopf und zieht gleichzeitig das Papier so nah an die Augen, dass ich mich frage, ob sie vielleicht kurzsichtig ist. Sie liest die Worte und runzelt konzentriert die Brauen. Dann gibt sie mir die Notizen wieder zurück.
»Es tut mir wirklich leid, aber … Nun, ich bin nicht sicher. Irgendwie … kommt mir das Wort bekannt vor, ohne dass ich damit etwas verbinden könnte.«
»Welches Wort?«, will Sonia wissen.
»Aubur«, erwidert Madame Berrier. »Es klingt englisch oder … vielleicht auch keltisch. Aber ich wüsste nicht, welcher Ort damit gemeint sein könnte.« Sie hebt die Hand und klopft mit der Handfläche leicht gegen ihre Lippen, als ob sie damit die Antwort hervorlocken könnte. »Ich muss darüber nachdenken.« Sie geht an uns vorbei zur Tür. »Wir sollten jetzt gehen. Wir verweilen schon zu lange in Gedanken bei der Prophezeiung. Ich für meinen Teil möchte wieder hinaus in die Sonne, fort von den Schatten der Vergangenheit und den Dingen, die noch kommen mögen.«
Wir setzen Madame Berrier vor ihrem Haus ab. Ein beißender Wind lüpft ihren Hut, als sie sich uns zuwendet, und sie hält ihn mit einer Hand fest. Dann wirft sie Edmund, der ein paar Schritte entfernt steht, einen kurzen Blick zu.
»Eins muss ich noch sagen …«
Ich schlucke das ungute Gefühl, das in meiner Kehle emporsteigt, wieder hinunter. »Was?«
»Wenn das, was ich gehört habe, stimmt, dann können Sie sich am besten dadurch gegen die Seelen schützen, indem Sie das Amulett nicht tragen.« Sie spricht gleichmütig, fast unbekümmert, sodass es mir fast den Atem raubt.
»Das Amulett?«
Madame Berrier gestikuliert mit der Hand, als würde sie auf etwas Offensichtliches hinweisen. »Das Amulett. Das Armband. Das Medaillon. Das mit dem Zeichen.«
Mein Blick huscht zu Sonia. Ich habe ihr noch nichts von dem Medaillon erzählt, weil ich mir über seine Rolle in der Prophezeiung noch nicht im Klaren bin.
»Das Medaillon?« Ich versuche, meine Erregung zu unterdrücken. »Was ist damit?«
»Was damit ist?« Madame Berrier starrt mich fassungslos an. »Meine Liebe, es wird behauptet, dass jedes Tor in den Besitz eines Medaillons kommt, eines Medaillons, das haargenau zu dem Zeichen auf dem Handgelenk der
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