Die Prophezeiung der Schwestern - 1
dem ihr Blick auf Madame Berrier fällt. Ihr Mund verzieht sich zu einem schmalen Strich.
Madame Berrier dagegen begrüßt sie mit einem strahlenden Lächeln. » Bonjour , Mrs Harding! Wie geht es Ihnen an diesem herrlichen Nachmittag?«
Madame Berrier hat die Abneigung der Bibliothekarin gewiss bemerkt, aber nichts an ihrer Haltung deutet darauf hin. Im Gegenteil, sie behandelt die andere Frau wie eine gute Freundin, die nach langer Abwesenheit zurückgekehrt ist.
Die Frau, die Madame Berrier mit Mrs Harding ansprach, vollführt mit ihrem Kopf eine knappe Geste der Begrüßung. »Kann ich Ihnen helfen?«, fragt sie, als ob sie Madame Berrier zum ersten Mal in ihrem Leben sähe, obwohl nicht zu übersehen ist, dass sich die beiden Frauen kennen.
»Aber Mrs Harding!« Madame Berrier lächelt sie schelmisch
an. Dann legt sie den Kopf schräg und streckt die Hand aus, die offene Handfläche nach oben weisend. »Sie wissen doch, warum ich hier bin, nicht wahr?«
Mrs Hardings Gesicht nimmt einen verkniffenen Ausdruck an. Sie greift in ihre Tasche, zieht einen Gegenstand daraus hervor und lässt ihn in Madame Berriers Handfläche fallen. Die Finger schließen sich schnell, aber trotzdem erhasche ich einen Blick auf etwas silbrig Glitzerndes und erkenne, dass es ein Schlüssel ist.
» Merci , Mrs Harding. Ich werde ihn zurückgeben, sobald ich fertig bin. Wie immer«, ruft Madame Berrier über ihre Schulter zurück. Sie marschiert schon durch die Bibliothek auf den hinteren Teil des Gebäudes zu.
Sonia und ich werden durch den ungehaltenen Blick der Bibliothekarin, der diesmal uns gilt, aus unseren Gedanken gerissen. Wir eilen hinter Madame Berrier her, die den Saal schon halb durchquert hat. Als wir sie schließlich einholen, öffnet sie gerade eine Tür in der rückwärtigen Wand und tritt auf eine kleine Veranda.
Sonia schaut sie verwirrt an. »Wohin gehen wir?«
Madame Berrier winkt einladend in Richtung des gepflegten Gartens, der hinter der geöffneten Tür liegt. »Die Antwort, nach der Sie suchen, meine Liebe, liegt nicht in den sorgfältig katalogisierten Büchern der Bibliothek, sondern in jenen, die man weggesperrt hat, derer man sich schämt.«
Es bleibt keine Zeit für weitere Fragen. Madame Berrier tritt über die Türschwelle und wir folgen ihr schnell.
Sie geht uns voraus durch den manikürten Garten, der sogar im aufziehenden Winter noch schön zu nennen ist. Ich glaube schon, dass wir uns dem Ende des Anwesens nähern, als wir um eine Gartenhütte biegen, die trotz ihrer Armseligkeit in einem besseren Zustand ist als das verfallene Gebäude, auf das Madame Berrier nun zusteuert.
Sie steckt den Schlüssel, den ihr Mrs Harding gab, in das Vorhängeschloss an der Tür. Der Schlüssel dreht sich mit einem Klicken, woraufhin Madame Berrier die Tür mit großer Mühe und unter einem enormen Quietschen aufzieht. Wir treten hinter ihr ein und unsere Augen werden unwillkürlich von der Höhe angezogen.
»Oh! Das … das ist unglaublich.« Ich kann die Verblüffung in meiner Stimme nicht verhehlen, aber sie ist gemischt mit Trauer. Mein Vater hätte geweint, wenn er die Bücherstapel gesehen hätte, die überall mit so wenig Sorgfalt aufgeschichtet waren. »Wo sind wir hier?«
Die Decke erhebt sich drei Stockwerke über uns. Sogar von hier unten aus kann ich die Löcher im Dach erkennen. Der feuchte Geruch, der jeden Zentimeter des Gebäudes durchzieht, lässt keinen Zweifel daran, dass es niemanden kümmert, ob der eindringende Regen die Bücher ruiniert.
Madame Berrier hält sich sehr gerade. Ihr langer, schlanker Schwanenhals verkrampft sich, während sie den Raum - genau wie Sonia und ich - ehrfürchtig mustert. Obwohl sie weiß, was sich hier befindet, lässt auch sie der atemberaubende Anblick nicht kalt. »Das ist ein altes
Kutschhaus. Die heutige Bibliothek war früher ein Wohnhaus.«
»Ja, aber … All diese Bücher! Warum stehen sie nicht bei den anderen in der Bibliothek?« Mein Vater hätte dieselbe Frage gestellt, wiewohl mit einem Gutteil mehr Zorn.
Sie lächelt uns traurig an. »Dies sind Bücher, von denen die Verantwortlichen der Stadt nicht wollen, dass sie neben den anderen, eher … traditionellen Werken stehen, jedermann frei zugänglich. Das könnte dem Ruf der Stadtväter schaden. Und so halten sie sie von den anderen fern.«
Sonias Augen leuchten im Dämmerlicht des alten Kutschhauses. »Aber warum?«
Madame Berrier seufzt. »Weil diese Bücher von Dingen handeln, die
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