Die Prophezeiung der Schwestern - 1
seinem
Griff befreien. »Ich bin Ihnen wirklich dankbar für Ihre Hilfe. Aber ich glaube, ich bleibe einfach eine Weile hier. Sicher wird mein Vater mich eher finden, wenn ich mich eine Zeit lang an einem Ort aufhalte, statt ständig herumzulaufen.«
Sein Griff verstärkt sich, und ich zucke zusammen, als sich seine Finger schmerzhaft in das weiche Fleisch meines Oberarms bohren. »Nein, nein. Das glaube ich nicht.« Seine Stimme hat sich verändert. Sie ist jetzt härter. Weniger freundlich - und nicht nur das. »Wir beide, Sie und ich, haben eine andere Verabredung, die…«
Aber er hat keine Gelegenheit, den Satz zu beenden. Ganz plötzlich steht ein Junge in einem merkwürdigen Hemd ohne Knöpfe und kurzen Hosen vor uns, die seine zerkratzten Knie entblößen. Er ist etwa in Henrys Alter und sein Gesicht ist schmutzverkrustet.
»Mach, dass du wegkommst, Freundchen«, sagt der Junge.
»Na, na, kleiner Mann. Du tätest besser daran, dich nicht in Dinge einzumischen, für die du noch viel zu jung bist. Verschwinde.« Michael Ackermann zieht mich einen Schritt weiter, ehe ihm der Junge den Weg verstellt.
»Ich sag’s nicht noch einmal. Lass sie los. Ich will dir nicht wehtun.«
Es ist seltsam, diese Drohung aus dem Mund eines kleinen Jungen zu vernehmen, aber wenn ich in seine Augen sehe, die hart wie Stahl sind, weiß ich, dass er es ernst meint.
»Hör zu.« Michael Ackermann strafft die Schultern und
richtet sich zu voller Größe auf. »Ich glaube, du weißt nicht, mit wem du dich anlegst, wenn du verstehst, was ich meine. Dieses Mädchen muss gefangen genommen werden.«
Der Junge schüttelt resigniert den Kopf. »Ich hab’s versucht. Ich hab wirklich versucht, es dir zu erklären.« Er schaut mich an. »Hab ich’s versucht oder nicht?«
»Ich… ich denke schon…«
Kaum habe ich die Worte ausgesprochen, da hebt der Junge die Hand und sagt etwas in einer Sprache, die ich nicht verstehe. Zunächst wird die Luft um uns ganz still. Sogar die Wellen, die sich an der Küste brechen, bewegen sich völlig geräuschlos, als ob alle Energie der Elemente von dem Spruch des Jungen zum Schweigen gebracht worden wären. Dann, ganz unvermittelt, fängt der Boden an zu beben. Einen Moment lang - eigentlich nur den Bruchteil einer Sekunde - wechseln wir alle eilige Blicke, der des Jungen unerklärlich zufrieden, der von Michael Ackermann wissend und angstvoll. Ich dagegen verstehe nicht, warum seine Hand plötzlich meinen Arm loslässt, bis ich nach unten schaue und sehe, dass sich der Boden unter ihm geöffnet hat. Der Sand teilt sich nahtlos und er fängt an zu sinken, wird Stück für Stück verschluckt. All das geschieht unglaublich schnell, und als ich das nächste Mal blinzle, ist Michael Ackermann verschwunden und der Sand wieder glatt und spurlos, als ob er niemals da gewesen wären. Auch die Wellen fahren mit ihrem hypnotischen Rhythmus fort.
Ich wende mich dem Jungen zu. »Aber… Was… Wo… Was hast du mit ihm gemacht?«
Er seufzt. »Ganz ruhig! Nicht aufregen - ich habe ihn ausgiebig gewarnt, und du hast gesehen, wie schnell er gesunken ist. Außerdem wollte er dich zu den verlorenen Seelen bringen.« Seine Ausdrucksweise ist fremdartig und fließend, beinahe sorglos.
Ich trete einen Schritt zurück. Ich habe keine Zeit, diese bizarre Zurschaustellung von Magie zu hinterfragen, die mich - so grausam sie auch scheinen mag - immerhin gerettet hat. Meine Probleme sind persönlicher Natur und darüber hinaus viel wichtiger. »Und woher soll ich wissen, dass du nicht genauso bist wie er? Vielleicht willst du mich auch zu den Seelen schleppen. Immerhin bist du hier in den Anderswelten, genau wie sie.«
»Ja, aber ich gehöre nicht zu ihnen. Ich bin nur hier, weil ich die letzte Schwelle noch nicht überschritten habe.«
Ich verenge meine Augen, als ob mir das helfen würde zu entscheiden, ob er es ehrlich meint oder nicht. »Und warum nicht?«
»Ich weiß nicht, aber hier gibt es viele Geistwesen wie mich. Manchmal bleiben wir aus freiem Willen und manchmal… bleiben wir einfach.« Er zuckt mit den Schultern. »Auf jeden Fall musst du keine Angst haben, dass ich dich zu den Seelen bringe.« Er beugt sich vor, schaut sich um, als ob uns irgendjemand belauschen würde, und sagt mit gesenkter Stimme: »Thomas - ähm, ich meine, dein Vater - hat sich um mich gekümmert, weißt du? Er hat mich vor
allem Möglichen beschützt. Dieser Ort hier« - und dabei schaut er zum Himmel und stößt einen leisen
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