Die Prophezeiung der Schwestern - 1
nicht wiedererkenne.
Der Boden unter mir ist dicht mit Bäumen bewachsen, ein dicker grüner Teppich, der von oben aus weich und flauschig wirkt. Während ich durch den Himmel fliege, wird der Geruch nach Salz stärker, und die Bäume unter mir lichten sich, bis ich sie gänzlich hinter mir lasse und eine ausgedehnte Wiese erreiche, auf der langes grünes Gras im Wind schaukelt. In der Ferne höre ich das Meer.
Es wird lauter und lauter, und schon bald bin ich über einem breiten Sandstrand, an den ein azurblauer Ozean leckt.
An dieser Stelle erinnere ich mich an Sonias Rat, das Fliegen nach Möglichkeit zu unterlassen, und kehre auf den Boden zurück. Meine Füße sinken im Sand ein. Sogar durch meine Stiefel hindurch fühle ich die rauen Körner und wundere mich über die Empfindungen, die mich mit jedem Mal, das ich auf den Schwingen reise, stärker überkommen.
Ich bin mir nicht sicher, auf welche Weise ich meinen Vater ausfindig machen soll. Wenn Sonia recht hat, wird er nach mir Ausschau halten, aber dennoch kommt es mir nicht klug vor, so gänzlich ungeschützt auf dem Strand zu stehen. Besonders da ich nicht weiß, ob ich mich in der richtigen Welt befinde.
Gespenstische Felsformationen haben Höhlen gebildet, die es unmöglich machen, über den Strand hinauszusehen. Ich bin erleichtert, dass ich mir keine Sorgen machen muss, schon aus weiter Entfernung erspäht zu werden, aber ich vermeide es, mir die Dunkelheit jenseits der Höhlenöffnungen näher zu betrachten. Stattdessen konzentriere ich mich auf den Pfad vor meinen Füßen, laufe über den Sand und umrunde gelegentlich Felsbrocken, die mir im Weg liegen.
»Ja, hallo!«
Beim Klang der Stimme, die aus den Höhlen kommt, wäre mir vor Schreck beinahe das Herz stehen geblieben.
Ich bin bestürzt, dass ich an einem so abgelegenen Ort nicht allein bin. Ein Gentleman kommt auf mich zu, wobei er - genau wie ich - die zahlreichen zerklüfteten Felsbrocken umgeht. Er ist jung und trägt elegante Hosen und eine Weste. Seine formelle Kleidung wirkt in dieser ungezähmten Landschaft komisch und völlig fehl am Platz.
»H… Hallo.« Schnell schaue ich mich um, ob noch andere in der Nähe sind.
Der Mann kommt näher, und ich erkenne, dass er ziemlich attraktiv ist. Er hat helles Haar, so wie James, und sein Gesicht ist leicht gebräunt. Er ist kaum älter als ich und seine Augen blicken freundlich. Ich entspanne mich ein wenig.
Mit gespielter Würde verbeugt sich der Mann vor mir. »Michael Ackermann, zu Ihren Diensten, Miss. Ich dachte schon, ich müsste den ganzen Tag mutterseelenallein am Strand herumwandern, aber mir will scheinen, ich habe Glück! Welchem Umstand verdanke ich solch liebreizende Gesellschaft?«
»Nun,… ähm, Mr Ackermann…«
»Oh, bitte nennen Sie mich Michael. Mr Ackermann ist mein Vater.«
»Also schön, … Michael. Ich suche jemanden, wissen Sie. Aber ich bin mir nicht sicher, wo er ist, und ich… nun, ich kenne mich hier noch nicht besonders gut aus.«
Er nickt verständnisvoll. »Ich verstehe. Sie sind hier wegen Ihres Vaters, nicht wahr?«
Ich lege den Kopf schräg und begutachte ihn mit neuerlichem
Interesse. »Nun… ja. Ja, das stimmt. Woher wissen Sie das?«
Er wedelt mit der Hand. »Ach, das ist nicht schwer. Man weiß die Dinge hier einfach. Man könnte sagen, die Welt ist klein.« Er lacht über seinen Scherz.
»Vermutlich. Haben Sie eine Ahnung, wo ich meinen Vater finden kann?«
Er nickt selbstsicher. »Ja. Ja, natürlich. Er hat mich ja geschickt, um Sie zu holen.«
»Tatsächlich?«
»Ja, wirklich. Er meinte, ich solle nach einer bildhübschen jungen Dame von etwa sechzehn Jahren Ausschau halten und sie umgehend zu ihm bringen.« Damit nimmt er meinen Arm und fängt an, mich den Strand entlangzuziehen.
Ich löse mich aus seinem Griff. »Oh, bitte warten Sie einen Moment. Ich bin nicht sicher, ob ich mit irgendjemandem mitgehen sollte. Wissen Sie…«
»Unsinn!« Wieder packt er meinen Arm, diesmal deutlich fester. »Ich weiß genau, wen Sie suchen, und ich werde Sie zu ihm bringen.«
Aber bereits nach wenigen Schritten fällt mir das merkwürdige Glänzen in seinen Augen auf. Er kommt mir nun gar nicht mehr hilfreich vor, sondern irgendwie finster, und durch die Welten hindurch höre ich Sonias Stimme.
Einige werden versuchen, dir zu helfen, andere wollen dich vielleicht in die Irre führen, und wieder andere legen es darauf an, dich zu vernichten.
»Jetzt hören Sie mir mal zu.« Ich will mich aus
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