Die Prophezeiung der Schwestern - 1
die Sache hinter mich zu bringen,
damit ich in die Geborgenheit von Birchwood zurückkehren kann. »Also schön. Sag mir, wie ich mich schützen kann.«
Sonias Brauen ziehen sich nachdenklich zusammen. »Alle Lebewesen verströmen eine Art Energie, und das schließt auch die Wesen ein, die in den Anderswelten leben. Wenn sie versuchen, dir ein Leid zuzufügen, dann nutzen sie dafür diese Energie. Um dich zu schützen, musst du das Gleiche tun.«
Ich nicke und denke an die Seelen, die auf jenem toten Feld über Alice und mir wirbelten, an ihre Stärke, an die Kraft, die meinen Willen schwächte und mich gefügig machte. »Aber wie soll ich das anstellen? Wie soll ich mir diese Energie… dienstbar machen?«
Nervös tippt sie mit ihren Fingern auf das Sofa. »Das ist schwer zu erklären. Ich tue es, seit ich ein Kind bin, und daher kann ich die Sache kaum in Worte fassen. Aber stell dir diese Energie, die du in dir trägst, als eine Art Samenkorn vor, ein winziger Keim im Zentrum deines Seins. Das Samenkorn ist sehr klein, kaum wahrnehmbar, aber darin liegt mehr Kraft, mehr Stärke, mehr Licht, als du dir vorstellen kannst. Wenn du dich bedroht fühlst, musst du dafür sorgen, dass das Samenkorn aufbricht und das Lebendige in sich preisgibt.«
Ich will ihr nicht sagen, dass mir das alles zu fantastisch vorkommt. Dass mir die Vorstellung, mich könnte ein unsichtbares Samenkorn gegen die schiere Übermacht der Seelen beschützen, ganz und gar nicht einleuchten will -
und das ist noch harmlos ausgedrückt. Stattdessen nicke ich gehorsam, öffne meinen Geist für ihre Worte und ermahne mich, dass ich noch vor wenigen Wochen nichts von alledem - das Zeichen, das Medaillon, die Prophezeiung - für bare Münze genommen hätte. Und doch ist alles wahr.
Sie fährt fort, als hätte sie meine ungläubigen Gedanken vernommen. »Du darfst nicht einfach nur daran denken. Du musst es vor dir sehen, verstehst du? Du musst dir das Bild des Samenkorns vorstellen, das sich öffnet und deine Energie freilässt, die nach außen strömt und eine Barriere errichtet, die dir die Gelegenheit zur Flucht gibt.«
»Das ist meine einzige Hoffnung? Flucht?«
Sie nickt. »Im Augenblick, ja. Du hast weder die Kraft noch das Können für irgendetwas sonst. Konzentriere dich nur auf die Aufgabe, die vor dir liegt, Lia. Finde deinen Vater. Frage ihn, wo er die Liste versteckt hat. Und dann komm sofort zurück.«
27
E lf… zwölf… dreizehn… vierzehn… fünfzehn…« Unsere Stimmen bilden eine geisterhafte Musik in der Schwärze hinter meinen geschlossenen Augenlidern. Sie klingen im Chor - meine, Luisas und Sonias -, und stimmen einen flüsternden Hintergrundgesang vor der Leere an, in die ich mich fallen lasse.
Und dann verstummen sie, zum Schweigen gebracht durch ein Kommando, das ich nicht wahrnehme.
»Lia, du wirst dich von dieser Welt lösen. Lasse dich in die Dunkelheit fallen, die dich in die Anderswelten führt.« Sonias Stimme ist tief und sanft. Dann ist sie still und ich bleibe allein mit der Leere in meinem Geist.
Zuerst fällt es mir schwer, nicht zu denken, nicht darüber nachzugrübeln, wann Tante Virginia heimkehren wird, ob die Dienstboten es nicht seltsam finden, dass ich mich mit meinen Freundinnen in die Bibliothek zurückgezogen habe, und ob ich in der Lage bin, Vater zu finden.
Aber meine Gedanken lassen diesen Bereich schon bald hinter sich, und kurz darauf ist nichts mehr da, worüber ich nachdenken könnte. Ich kann nichts mehr weiter tun, als mir Vaters Gesicht vorzustellen, meinem Atem zu lauschen, der zunächst flach ist, dann langsamer und tiefer wird. Ich stelle mir die zarte und duftige Welt vor, die ich auf meinem Flug über den Ozean erlebt habe, den endlosen Himmel, der sich weit und weich über mir erstreckte. Ich rieche die salzige Luft und sehe Vaters Gesicht vor mir.
Ganz plötzlich zuckt ein Blitz vor mir auf, ein blendendes Licht, das mich, als es vergeht, nicht in der Dunkelheit des Schlafs zurücklässt, sondern in gleißendem Sonnenschein, sodass ich nichts erkennen kann. Der Klang meines Herzschlags verstärkt sich, pocht beharrlich im Hintergrund, während mich Erinnerungen durchziehen, die schneller und immer schneller wechseln. Birchwood. Sonias und Luisas Gesichter. Alice und Henry. Der Fluss. James, der am Ufer liegt. Und dann löse ich mich aus der Enge meines Körpers mit einem mächtigen, befreienden Ruck, bin mir bewusst, dass ich über einen Wald fliege, den ich
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