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Die Prophezeiung der Schwestern - 1

Die Prophezeiung der Schwestern - 1

Titel: Die Prophezeiung der Schwestern - 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Zink
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Besonders in den Anderswelten.
    Die Erinnerung an Sonias Stimme erweckt mich aus meiner Starre. Ich schließe die Augen und stelle mir meinen Vater vor. Nichts anderes lasse ich in meine Gedanken.
    Vater, Vater, Vater.
    Ich werde emporgehoben. Die erfrorene Landschaft unter mir entfernt sich. Während ich in die Höhe schwebe, sehe ich unzählige Gesichter, die im Eis gefangen sind, so weit das Auge reicht. Eine unvorstellbare Zahl an Seelen, verbannt und eingefroren bis in alle Ewigkeit.
    Und dann bin ich wieder in dem schwarzen Wirbel. Zurück in der kreiselnden Dunkelheit.

    Als ich die Augen öffne, schwebe ich ein kleines Stück über einer Wiese. Das Gras ist feucht vor Tau. Ich erkenne, dass ich mich in der Nähe von Birchwood befinde, in der Parallelebene der Anderswelten, obwohl es hier nichts gibt außer Feldern und Bäumen. Es ist Abend, und als ich in den Himmel schaue, sehe ich, dass er nicht grau ist wie an jenem Tag, als Alice mich in die Anderswelten lockte, um mir nach dem Leben zu trachten. Dieser hier ist weit und von einem dunklen Violett, wie damals, als ich das erste Mal auf den Schwingen reiste und übers Meer flog.
    Ich erkenne die mächtige Eiche, die auf der Lichtung am Fluss ihren Schatten wirft. Vater hat mich als Kind oft hierher mitgenommen, hat mir im Sommer unter dem Dach des gigantischen Baums vorgelesen. Ich lasse mich zur Erde nieder, bis meine Füße das taunasse Gras berühren.
    Ich fürchte mich nicht.
    Während ich in Richtung des Baums gehe, verspüre ich eine ungeheure Erwartung, als ob mir gleich etwas ganz Wunderbares widerfahren würde, das ich nicht in Worte fassen kann. Und als sie aus dem Wald auftauchen, begreife ich auch, warum das so ist.
    Vater sieht jünger aus, als ich ihn in Erinnerung habe, obwohl Mutter genauso wirkt, wie ich sie immer vor mir gesehen habe - eine junge Ehefrau und Mutter. Ihr Lachen schwebt auf der Brise zu mir, während sie sich Hand in Hand nähern. Voller Bewunderung schaut sie zu meinem Vater auf. Ich fühle mich wie ein Eindringling, als ob dieser
Augenblick ihnen allein gehören würde. Aber das Gefühl ist nicht von Dauer. Als sie mich sehen, leuchten ihre Gesichter auf.
    Im nächsten Moment stehen sie vor mir. Ich werfe mich in Vaters Arme.
    »Vater! Bist du es wirklich?« Meine Stimme klingt gedämpft gegen den Stoff seines Rocks.
    Sein sorgloses Lachen hüllt mich ein, lässt seine Brust vibrieren. »Aber natürlich bin ich es, Liebling! Wer sonst würde hier Arm in Arm mit deiner bezaubernden Mutter entlangspazieren?«
    Die Erwähnung meiner Mutter gemahnt mich daran, dass Vater und ich nicht allein sind.
    »Mutter. Ich… ich kann es nicht glauben. Ich kann nicht glauben, dass ich dich vor mir sehe.«
    Sie lächelt und neigt leicht den Kopf, eine Geste, die mich an Tante Virginia erinnert. Und auch ein bisschen an Alice. »Ich musste einfach kommen. Es scheint mir, als ob du uns brauchst, mehr denn je.« Sorge beschattet ihre Augen.
    Ich nicke. »Ich bin hier, weil ich mehr über die Prophezeiung und den Platz erfahren will, den ich einnehmen muss. Ich muss die Liste mit Namen finden, aber ich weiß nicht, wo Vater sie versteckt hat.« Ich wende mich ihm zu. »Warst du es? Als wir durch Sonia miteinander sprachen … durch… die Geisterbeschwörerin?« Ich erinnere mich an das Wort, das er benutzte, während Sonia noch in Trance war.

    Er zögert, dann nickt er. »Ich wollte dir alles über die Liste sagen, aber ich konnte dich nicht deutlich hören. Und dann kam … er.«
    Die Worte lassen mir das Blut in den Adern gefrieren, obwohl der Wind so mild ist wie zuvor. »Ja.«
    »Ich war gezwungen zu fliehen, andernfalls hätte er mich ergriffen und in den Abgrund gebracht. Ich wäre schon längst dort, wenn deine Mutter nicht gewesen wäre. Sie hat mit ihrer Macht eingegriffen, als die Seelen mich dorthin verbannen wollten. Seitdem sind wir auf der Flucht.« Er schaut zu ihr hinunter, legt den Arm um ihre Schultern und zieht sie mit so viel Liebe an sich, dass mir die Kehle eng wird.
    Dann wendet er sich wieder zu mir. »Ich wusste, dass du mich brauchst. Das ist der Grund, warum… warum ich noch nicht die Schwelle überschritten habe. Warum wir beide noch nicht in die letzte Welt übergegangen sind.« Er schaut sich um und fährt dann leiser fort: »Überall in den Welten spricht man von nichts anderem, Lia. Nur davon, dass man dich aufhalten muss, wenn du hier auftauchst. Samael wird von allen über alle Maßen gefürchtet, und

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