Die Prophezeiung der Schwestern - 1
ihren nächsten Worten befürchtet, abmildern möchte. »Aber du … du bist noch nicht ausreichend ausgebildet, Lia.«
»Ich weiß, aber es ist unsere einzige Hoffnung. Wir müssen die Namen der restlichen zwei Schlüssel in Erfahrung bringen. Wir kommen ohne sie nicht weiter, und der einzige Weg, sie zu finden, ist die Liste.« Ich denke kurz nach, ehe ich meine Entscheidung treffe. »Es gibt keinen anderen Weg. Du sagtest, es sei möglich, das Reisen zu beherrschen, zu kontrollieren, nicht wahr? Dass man sich wissentlich und aus freiem Willen in die Anderswelten begeben kann. Du kannst mir helfen, dorthin zu gelangen, Sonia. Du kannst mir helfen, meinen Vater zu finden. Du kannst mir sagen, was ich tun soll.«
Sie möchte es leugnen. Ihr Nicken kommt langsam und zögerlich. »Aber du begibst dich in eine ungeheure Gefahr. Die Seelen warten. Samael selbst wartet. Er wartet auf dich, Lia. Er wird versuchen, deine Seele in den Anderswelten festzuhalten. Und wenn es ihm gelingt … Wenn es ihm gelingt, dann wird er dich in den Abgrund stoßen, und du wirst auf ewig Samaels Gefangene sein. Begreifst du, was das bedeutet, Lia? Du wirst niemals in die letzte Welt eintreten können. Niemals.« Sie schüttelt den Kopf und fasst einen Entschluss. »Nein. Du darfst nicht alleine reisen. Noch nicht. Ich werde mit dir gehen.«
Aber mein Entschluss steht fest.
»Ich werde allein gehen.«
Eine halbe Stunde später liege ich auf dem Ledersofa in der abgedunkelten Bibliothek. Die schweren Vorhänge sind zugezogen und schließen die Nachmittagssonne aus.
Sonia kniet neben dem Sofa. Ihre Augen sind ernst und besorgt.
»Wenn ich es sage, dann schließt du die Augen und leerst deinen Geist vollkommen, denkst nur an den Ort, an den du dich begeben willst, an das Gesicht, das du zu sehen wünschst. Wir werden gemeinsam zählen, bis ich Stopp sage. Versuche, auf deinen Atem zu horchen, deinen Herzschlag zu fühlen. Ich weiß, es klingt … nun, es mag verrückt klingen, aber genau so musst du es machen. Beschränke dein Sein auf die Funktionen deines Körpers, während du an nichts anderes denkst als daran, wo du sein möchtest und wen du dort treffen willst.« Sie zögert, ehe sie fortfährt. »Hüte deine Gedanken, während du auf den Schwingen reist. Gedanken sind mächtig, Lia. Besonders in den Anderswelten.«
Ich präge mir diese Information ein, nicht zuletzt für die Zukunft, und merke, wie mich Panik überkommt, als mir noch etwas anderes einfällt. »Warte eine Sekunde. Muss ich in einer bestimmten Reihenfolge durch die Welten reisen, wenn ich nach meinem Vater suche?« Ich muss an das düstere Feld denken, wo ich Alice begegnet bin. »Und was, wenn ich am falschen Ort lande? Wenn ich Vater nicht finden kann oder, noch schlimmer, wenn ich in eine ganz und gar schreckliche Welt gerate?«
»Du kannst reisen, wohin du willst, obwohl es eine Weile dauern wird, bis du die Kontrolle über deine Richtung erhältst. Weil du noch ungeübt bist, musst du versuchen … deinen Vater zu dir zu rufen. Er wird deine Anwesenheit
auf den Schwingen spüren. Dieses Wissen, diese … Energie wird euch in der richtigen Welt zusammenführen. Er wird dich finden, wenn er kann. Und wenn nicht, bist du in der falschen Welt und musst umgehend in die nächste reisen, bevor die Seelen deine Gegenwart ebenso erspüren.«
»Was… was ist, wenn die Seelen mich finden? Oder Samael? Wie kann ich entkommen?«
Sonia kaut nachdenklich auf ihrer Lippe herum. »Du musst deine Füße bei der ersten sich bietenden Gelegenheit auf festen Boden stellen. Wir alle sind auf den Schwingen verwundbar. Es ist nicht unser Element. Aber während wir fliegen, sind wir am angreifbarsten. Jene, die in den Anderswelten leben, wissen, wie sie sich dort bewegen müssen. Sie wissen, wie sie damit umgehen müssen, wie sie finden, wonach sie suchen. Und wie sie jenen, die sie als Eindringlinge betrachten, Leid zufügen können. Wenn die Seelen dich in eine Falle locken, oder Samael oder … jemand anderes…«
Alarmiert stütze ich mich auf die Ellbogen. »Jemand anderes?«
Sie legt mir ihre warme Hand auf den Arm. »In den Anderswelten existieren unzählige Geistwesen. Einige werden versuchen, dir zu helfen, andere wollen dich vielleicht in die Irre führen, und wieder andere legen es darauf an, dich zu vernichten. Auch erfahrene Reisende müssen sich vor den Schwingen in Acht nehmen.«
Diese neue Erkenntnis spornt mich nur noch mehr an. Ich kann es kaum erwarten,
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