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Die Prophezeiung der Schwestern - 1

Die Prophezeiung der Schwestern - 1

Titel: Die Prophezeiung der Schwestern - 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Zink
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mir der Gedanke nicht, hier so ungeschützt und für alle gut sichtbar auf dem Eis zu stehen. Vorsichtig gehe ich los, bis ein dumpfer, widerhallender Ruf meine Aufmerksamkeit erregt. Ich bleibe stehen und lausche.
    Es ist eine Stimme, erstickt und wie aus weiter Ferne. Ich stehe ganz still und versuche, Worte herauszuhören, aber es gelingt mir nicht. Also gehe ich in die Richtung, aus der die Stimme kommt. Es gibt nichts, woran ich mich orientieren könnte, nichts, was mir Auskunft darüber geben könnte, wie weit ich schon gegangen bin. Aber ich merke, dass ich mich jemandem nähere, denn die Stimme wird lauter. Es ist ein unbeschreiblich seltsames Gefühl, eine Stimme näher und näher kommen zu hören, obwohl man nichts und niemanden sehen kann - kein Gebäude, keinen Baum, keine Höhle. Nichts.
    Je näher ich dem Ursprung der Stimme komme, desto mehr gelange ich zu der Überzeugung, dass sie um Hilfe ruft. Ich gehe schneller, obwohl das angesichts der spiegelglatten Eisfläche nicht so einfach ist. Im Übrigen bin ich nicht sicher, welche Art von Hilfe ich überhaupt leisten kann. Die Stimme ist jetzt ganz nah, und ich bleibe stehen, um mich umzuschauen. Dann gehe ich weiter. Ich fühle mich, als würde ich »Blindekuh« spielen und jemand riefe
mir »heiß« oder »kalt« zu. Der Junge vom Strand würde mir vermutlich raten, still zu sein und auf meinen Vater zu warten, aber es ist mir unmöglich, dieses Jammern mitanzuhören, ohne mich nach der Person zu erkundigen, die da ganz offensichtlich Qualen erleidet.
    »Hallo? Ist jemand da? Ist alles in Ordnung?« In die eisige Leere hinauszurufen, kommt mir dumm vor.
    Das Stöhnen verstummt, aber nur für einen Moment. Dann setzt es wieder ein, und jetzt, endlich, kann ich ein paar Worte ausmachen. »Hilfe … Helfen Sie mir… Bitte.« Es hört sich wie die Stimme einer Frau an.
    Ich schaue mich um und versuche herauszufinden, woher die Person wohl rufen mag. »Hallo? Wo sind Sie?«
    »Helfen… Sie mir.« Die Stimme befindet sich direkt neben meinem Ellbogen, fast unter meinen Füßen. »Bitte … retten… Sie mich.«
    Diesmal gibt es keinen Zweifel. Die Stimme ist nicht neben mir - sondern tatsächlich unter mir. Ich lenke meinen Blick auf das Eis und wäre fast ausgerutscht, als ich die Gestalt sehe, die unter meinen Füßen eingefroren ist. Ich unterdrücke einen Schrei, und diesmal kann ich mein Gleichgewicht nicht mehr halten, sondern falle mit wedelnden Armen schwer auf das Eis. Auf Händen und Knien rutsche und schlittere ich weg von der Gestalt, die im Eis begraben liegt, obwohl es keinen Grund gibt, warum ich mich vor ihr fürchten sollte. Das Gesicht ist bar jeder Farbe, aber makellos. Selbst ihr Haar ist gefroren und erstreckt sich wie ein Banner hinter ihrem Kopf.

    Ihre Lippen bewegen sich kaum merklich. »Helfen Sie mir. Sie… kommen.«
    Schrecken und Mitleid überwältigen mich gleichermaßen. Ich will etwas tun, aber um die Wahrheit zu sagen, kämpft mein Wunsch, der Frau zu helfen, mit dem schier übermächtigen Verlangen zu fliehen, so weit wie möglich wegzukommen von diesem entsetzlichen Anblick. Fieberhaft überdenke ich meine Möglichkeiten und komme zu einer Entscheidung: Ich habe keine Zeit, irgendjemandem zu helfen. Wenn ich meinen Vater finden und damit an die Liste herankommen will, muss ich den Seelen aus dem Weg gehen. Zu lange an einem Ort zu bleiben, wäre nicht ratsam - besonders wenn es sich um einen so entsetzlichen und gefährlichen Ort wie diesen handelt.
    Als ich unsicher aufstehe, verwandelt sich die einzelne Stimme der Frau im Eis in unzählige Stimmen, die alle stöhnen und seufzen. Sie sind unter mir, über mir in der Luft, um mich herum, zerren und reißen an mir, bis ich glaube, dass ihre eisigen Finger mich zu Boden drücken.
    » Hilf… uns… verloren… sterben… bitte… erlöse uns… Kind …« Die Stimmen verschränken sich zu einem Chor, verzerren und verbiegen sich, bohren sich in meinen Geist, bis ich mir die Ohren zuhalte und einfach nur dastehe, nach Atem ringend, erstarrt durch Angst und Schrecken.
    Ich muss daran denken, wie ich mich fühlte, als ich den Strand verließ. Und da weiß ich, wo ich bin: im Abgrund.

28
     
     
     
     
    I ch will die Augen vor der Wahrheit verschließen, will es nicht glauben, aber es lässt sich nicht leugnen: Nicht die Seelen haben mich hierher geführt, sondern meine eigene Angst - meine Gedanken, während ich auf den Schwingen reiste.
    Gedanken sind mächtig, Lia.

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