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Die Prophezeiung der Seraphim

Die Prophezeiung der Seraphim

Titel: Die Prophezeiung der Seraphim Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mascha Vassena
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sich selbst überzeugen, und obwohl Julie daran zweifelte, schwieg sie dazu.
    »Morgen früh werden wir sowieso nicht mehr hier sein.« Sie erzählte rasch, was geschehen war.
    Nicolas richtete sich auf und lachte, wieder ganz er selbst. »Das hätte ich deinem Bruder gar nicht zugetraut, Respekt!«
    »Du bist ein Scheusal!«, sagte Julie und hieb ihm auf den Oberarm, so fest sie konnte.
    Nicolas zog nur die Augenbrauen hoch. Er schien nicht den geringsten Schmerz zu spüren.
    Ruben hatte keine Vorstellung davon, wo er sich befand. Die Nacht schloss sich um ihn und sein seltsames, geflügeltes Reittier wie dunkles Wasser, nur schemenhaft konnte er die Landschaft erkennen, die unter ihnen vorbeizog, denn der Mond hatte sich hinter Wolken zurückgezogen. Ihm blieb nur, dem Tier zu vertrauen, das anscheinend auch in der Dunkelheit gut sehen konnte. Gelegentlich glaubte Ruben, unter sich die Windungen eines Flusslaufs zu erkennen, der von Bäumen gesäumt wurde.
    Anfangs hatte er sich ganz dem Rausch des Fliegens hingegeben, noch nie hatte er ein solches Gefühl von Freiheit verspürt, doch jetzt war er müde. Er hatte den Kopf auf den Hals des Kalokardos gelegt, und nur die Furcht abzustürzen, hielt ihn wach.
    Nun wurden auch Alis’ Flügelschläge schwerfälliger, und Ruben merkte, dass sie stetig an Höhe verloren. »Machen wir Rast«, sagte er, und offensichtlich verstand das Tier, denn es ließ sich sinken, bis sie parallel zum Fluss dicht über den Baumwipfeln dahinglitten.
    So elegant der lautlose Flug gewesen war, so holperig war die Landung. Sie setzten auf einem Acker auf, wobei das Kalokardos in die Knie brach und sich beinahe überschlagen hätte. Ruben wurde von seinem Rücken katapultiert und machte Bekanntschaft mit dem hiesigen Boden, der sehr hart und trocken war. Dabei schlug sein Kopf gegen den einzigen Stein, der weit und breit zu sehen war.
    »Wie immer bin ich ein Glückspilz«, murmelte Ruben mit bitterer Selbstironie, die ihn selbst überraschte, und rieb sich den Kopf. Dann stand er auf und klopfte sich den Dreck von seiner Kleidung. Er musste nachsehen, ob das Tier noch am Leben war. Er irrte einige Zeit in der Dunkelheit umher, bevor er es am Rand des Ackers unter Bäumen fand. Ruben tätschelte ihm den Hals. »Hast du Durst?«
    Alis hob sofort den Kopf, setzte sich in Bewegung und führte ihn zum Fluss. Nachdem sie beide getrunken hatten, setzte sich Ruben mit dem Rücken gegen einen Baumstamm und streckte die verkrampften Beine. Obwohl die Nacht warm war, fröstelte er vor Müdigkeit.
    Erst jetzt konnte er über das nachdenken, was geschehen war. Ihm war nie in den Sinn gekommen, dass er seine Gabe nicht nur benutzen konnte, um zu heilen. Es hatte ihn überhaupt keine Kraft gekostet, Nowaks Arm zu brechen – er hatte es nicht einmal absichtlich getan. Unwillkürlich strich er sich über die Handflächen. Welche Macht er buchstäblich in seinen Händen hielt! Er konnte Leben spenden oder es nehmen. Der Gedanke war beängstigend und zugleich berauschend.
    Sein Leben lang war er nicht Herr seines Schicksals gewesen. Immer hatten andere über ihn bestimmt, so wie es auch Julie nicht für nötig hielt, ihn nach seiner Meinung zu fragen. Die Einzige, die ihm zugehört hatte, war Elisabeth d’Ardevon gewesen. Und es war seine Zwillingsschwester gewesen, die ihn dazu gebracht hatte, sie zu verlassen.
    Seine Gedanken wurden von Alis unterbrochen, der ihn sanft an der Schulter stupste und mit den Flügeln schlug.
    »Richtig, wir müssen weiter.« Ruben saß auf, klammerte sich an Alis’ Hals und lautlos stiegen sie wieder in den Nachthimmel.
    Julie saß mit Songe auf dem Schoß neben Javier auf dem Kutschbock, während Fédéric und Nicolas auf der Ladefläche zwischen Zelt, Wurfwänden und Javiers übrigen Habseligkeiten Platz finden mussten. Julie hatte weder Javier noch Fédéric erzählt, was sie mit Nicolas erlebt hatte, daher verhielten die zwei jungen Männer sich einigermaßen friedlich. Sie war froh, als sich nun am Horizont endlich ein heller Saum auftat, als höbe sich ein Vorhang. Nachts schien die Zeit viel langsamer zu verstreichen, und sie war ungeduldig, wieder zu Ruben zu stoßen.
    »Hoffentlich stellt er nicht noch mehr an«, sagte sie halb zu sich selbst.
    »Weshalb traust du deinem Bruder so wenig zu?«, fragte Javier, dem sie während der Fahrt ihre ganze Geschichte erzählt hatte. »Er ist ganz gut fünfzehn Jahre ohne dich zurechtgekommen.«
    »Er scheint nicht zu begreifen,

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