Die Prophezeiung der Seraphim
Schluck aus einer Schnapsflasche zu nehmen. »Brav gekämpft, mein Junge«, sagte der Messerwerfer. »Und ganz gewiss hat es nicht den Falschen getroffen.«
Aber Ruben hörte ihm kaum zu. Er dachte an Olga, an ihren hasserfüllten Blick, mit dem sie ihn bedacht hatte, bevor sie zu ihrem Vater gestürzt war. Gab es eine Möglichkeit, alles wiedergutzumachen, sodass sie ihn wieder anlächeln würde, statt ihn anzustarren als wäre er ein Ungeheuer?
Ruben blickte in die Flammen und sah genau vor sich, wie es sein sollte: Wieder saß er auf dem Thron und Olga saß neben ihm, während hinter ihnen jemand stand, der die Hand auf seine Schulter gelegt hatte. Und obwohl er ihn nicht sah, wusste Ruben, dass es sein Vater war.
Als hätten seine Gedanken sie herbeigerufen, trat auf einmal Olga in den Feuerkreis. Ihr hübsches Gesicht war von Wut entstellt. Sie streckte den Arm aus, zeigte auf Ruben und rief so laut, dass sie die Musik und das Gelächter der Feiernden übertönte: »Der da! Der hat versucht, meinen Vater zu ermorden!«
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RennesundUmgebung,August 1789
R uben war auf und davon, bevor die Umstehenden recht begriffen hatten, auf wen Olga zeigte. Während er rannte, hämmerten die Gedanken in seinem Kopf im Takt seines Herzens. Wie sie ihn angeblickt hatte, voller Abscheu! Der Druck in seiner Brust wurde so groß, dass er einen Schrei ausstieß. Im selben Moment stolperte er über eine Zeltschnur und stürzte, sein Gesicht schabte über die Erde. Er blieb liegen – beinahe genoss er den Schmerz – und krallte die Fäuste in ein Grasbüschel. Olgas Name pochte in seinem Kopf. Er lachte bitter auf, als ihm bewusst wurde, dass sie nur in seinen Gedanken existierte. Er hatte sie gesehen, wie er sie sich wünschte, nicht, wie sie wirklich war.
Jetzt hörte er aufgebrachte Rufe näher kommen, sie suchten also nach ihm. »Schnappt ihn!« und »Das wird er büßen, den stechen wir ab!« in den Ohren, rappelte er sich wieder auf. Wo konnte er sich verstecken?
Der einzige Ort, der ihm einfiel, war Javiers Zelt, das irgendwo rechts von ihm stehen musste. Die betrunkene, mordlüsterne Meute hinter sich, erreichte er es und stürzte hinein, wobei er beinahe die ganze Konstruktion umriss. Julie war dabei, ihr grünes Kostüm wieder gegen das einfache blaue Kleid zu tauschen, und blickte ihn erschrocken an.
»Ich muss mich verstecken!«, keuchte er, noch bevor seine Schwester etwas sagen konnte. »Sie sind hinter mir her! Nowak …, wir haben gekämpft und jetzt denken sie, ich wollte ihn umbringen!«
Julie griff sich an die Stirn. »Nicht schon wieder! Du hast wirklich ein Talent, dir Ärger einzuhandeln.«
Draußen grölten Rubens Verfolger, und einer rief: »Da drin ist er!«
Julie sah sich rasch um, dann hob sie die hintere Zeltwand. »Da hinaus!« Sobald Ruben auf der anderen Seite war, folgte sie ihm. Hinter dem Zelt trafen sie auf Javier, der gerade nach den Pferden sah. Er fragte nicht lange, sondern zischte: »Unter den Wagen!«
Kaum waren die Geschwister unter den Karren gekrochen, klappte er die Seitenwände hinunter. Dann schlüpfte er auf demselben Weg, den Julie und Ruben benutzt hatten, ins Zelt, vor dem sich unterdessen die aufgestachelte Menge versammelt hatte.
Ruben konnte die helle Stimme Olgas hören, verstand aber nicht, was sie sagte. Zitternd presste er die Wange ins Gras und biss die Zähne zusammen. Neben sich hörte er Julie atmen.
»Was hast du diesmal angestellt?« Sie flüsterte, aber er konnte hören, wie wütend sie war.
»Ich wollte nur Olga helfen«, verteidigte er sich leise, aber ebenso heftig. »Und dabei hab ich Nowak irgendwie den Arm gebrochen. Er hat mir im Gerangel das Amulett abgerissen, und da ist es passiert. Ich wollte es nicht, ich wusste nicht einmal, dass ich das kann.«
»Ist dir eigentlich klar, dass du alles aufs Spiel setzt?«, fragte Julie. »Dass du nicht nur dich selbst, sondern uns alle in Gefahr gebracht hast?«
Ruben schwieg. Julie hatte recht.
»Sie werden uns jetzt nicht länger dulden.« Julies Ton war nun sachlich. »Das macht nichts, obwohl ich mich lieber unauffällig verabschiedet hätte. Hör zu, du musst sofort verschwinden, denn wenn sie dich erwischen, knüpfen sie dich am nächsten Baum auf. In Paris habe ich gesehen, wozu eine aufgebrachte Menge fähig ist.«
»Aber wohin soll ich?«
»Pssst!« Javier war zurückgekehrt und klappte eine Seite des Karrens nach oben. »Sie sind weg«, flüsterte er. »Ich habe behauptet, euch seit der
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