Die Prophezeiung des Adlers
Erstaunen des Präfekten nicht bemerkt.
»Die Sibyllinischen Prophezeiungen«, sagte Narcissus leise. »Ich kann kaum glauben, dass sie wirklich existieren, und doch sind sie hier. Es scheint fast unmöglich.«
»Das war es auch beinahe.« Vespasian kratzte sich am Kinn. »Du hast keine Ahnung, wie viel Blut vergossen wurde, um diese Schriftrollen zurückzuholen.«
»Ja, ich bin mir sicher, dass ich in euren Berichten alles darüber lesen werde.« Narcissus warf ihm ein Lächeln zu. »Du wirst feststellen, dass es dem Kaiser, oder mir, nicht an Dankbarkeit für deine Bemühungen fehlen wird, das verspreche ich dir.«
»Das ist sehr beruhigend.«
Narcissus, dessen Blick wieder von den Schriftrollen angezogen wurde, überhörte die Bemerkung. Es kam Cato so vor, als wagte Narcissus kaum, sie zu berühren. Das war durchaus verständlich. Die Schriften waren von der Sibylle von Cumae aufgezeichnet worden: Sie waren das Ergebnis vieler Jahre, in denen sie die Vorzeichen gelesen und den Willen der Götter gedeutet hatte, um die Zukunft der größten aller Nationen vorherzusagen. Ein wenig Demut im Angesicht solch verehrungswürdiger Dokumente war das Mindeste, was man erwarten konnte.
Und doch lag noch etwas anderes in Narcissus’ Miene, etwas, das Cato Sorgen bereitete. Es war wie Habgier oder Ehrgeiz oder beides. Es war klar, dass Narcissus die Macht erkannte, die die Schriftrollen dem verliehen, der sie besaß. Und da war auch Furcht, wie man der Hand deutlich ansah, die sich nach den Schriften ausstreckte, dann aber verharrte, bevor die Fingerspitzen ihre alten, ledernen Hüllen berührten.
Falls die Schriftrollen tatsächlich einen prophetischen Wert besaßen, war das Wissen um die Ereignisse, die kommen würden, ein zweischneidiges Schwert. Cato fragte sich, ob sein eigener Wissensdurst in Narcissus’ Lage über die Angst siegen würde, zu viel zu erfahren: Klarheit zu bekommen, was das Schicksal für das Imperium bereithielt. Was würde es einem schließlich nutzen, vorgewarnt zu sein, falls ein großes Unglück den Staat befiele oder einem selbst eine persönliche Tragödie bevorstünde, wenn man nichts unternehmen könnte, um ein solches Geschick abzuwehren? Manchmal war Unwissenheit ein Segen, dachte Cato mit einem schiefen Lächeln.
Er sah verstohlen zu Vespasian und Vitellius hinüber und fragte sich, ob sie seine Beklommenheit wegen des Inhalts der Schriftrollen wohl teilten. Vespasian vielleicht schon. Aber es war schwer vorstellbar, dass Vitellius, in dem ein skrupelloser Ehrgeiz brannte, der Verlockung der Schriftrollen widerstehen könnte.
Vitellius forderte den Kaiserlichen Sekretär überheblich auf: »Mach schon. Sie beißen nicht.«
Narcissus betrachtete den Tribun forschend, beugte sich dann vor und zog die Schriftrollen über den Tisch auf sich zu. »Ich schaue sie mir später an, wenn ich ihnen die Zeit widmen kann, die sie verdienen.«
»Oh, ich bin mir sicher, das wird eine interessante Lektüre«, meinte Vitellius lächelnd. »Vorausgesetzt, die Prophezeiungen teilen nicht die Vorliebe unserer Wahrsager für Doppeldeutigkeiten und wilde Spekulationen. Falls du irgendwelche Hilfe brauchst … «
»Ich komme schon zurecht. Danke, Vitellius.«
Cato warf einen Blick auf den Tribun und konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass es nur gut war, dass Vespasian die Verantwortung für die Operation zur Bergung der Schriftrollen übernommen hatte. Sobald die Schriften wieder in die Hand der Römer gefallen waren, hatte er sie in seine Obhut genommen.
Vespasian hatte die Schriftrollen in ihrem Tragebeutel während der ganzen Reise von Ravenna nach Rom selbst getragen. Cato hatte ihn so genau wie möglich beobachtet, aber nicht ein einziges Mal gesehen, dass Vespasian sich an den Riemen zu schaffen machte, mit denen der Tragebeutel verschnürt war. Natürlich war im Prinzip denkbar, dass er in einer der Nächte, als sie um ein offenes Feuer schliefen oder im Schlafsaal eines kaiserlichen Stützpunkts lagen, einen kurzen Blick hinein riskiert hatte. Aber Cato bezweifelte es. Vespasian schien mit dem typischen Leiden des Aufsteigers gestraft, immer das Richtige tun zu wollen. Falls seine Befehle ausdrücklich vorsahen, dass er Narcissus die Schriftrollen überbringen sollte, ohne sie zu lesen, war schwer vorstellbar, dass er auch nur den Tragebeutel geöffnet hatte, um einen neugierigen Blick auf sie zu werfen. Vitellius dagegen hätte man sie nicht anvertrauen können. Cato ließ sich durch
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