Die Prophezeiung von Tandoran - Verwundete Welt - Yoga/Fantasy-Roman: 1 (German Edition)
Prolog
Vielleicht hätte ich nie danach fragen sollen, wohin Jason verschwunden ist. Manchmal ist es besser, etwas nicht zu wissen. Dann würde mich nicht diese Sehnsucht quälen. Ich hocke hier auf der Küchenbank mit dem Stapel Blätter vor mir, die Arme um meine Beine geschlungen, und kann nur an eines denken: Ich muss einen Weg nach Tandoran finden!
Doch der Reihe nach. Ich kenne Jason seit der Grundschule und wir haben viele Jahre zusammen Artistennummern für Zirkusauftritte trainiert. Die Schule hatte das organisiert und sollte Mitschülern, deren Eltern aus anderen Ländern kamen, dabei helfen, besser hier in Frankreich klarzukommen. Jason und ich waren das Traumduo am Trapez. Wir sind sogar einmal in Peking aufgetreten.
Nach dem Tod von seinem besten Freund Ben endete diese Zeit. Jason war von da an nur noch bei seinen Pferden oder er joggte durch die Gegend. Selbst mit dem Kung-Fu hatte er aufgehört. Obwohl er echt gut war.
In der ersten Zeit nach Bens Tod haben wir uns nach wie vor auf Partys getroffen. Doch entweder war Jason schon vor Mitternacht derart betrunken, dass man sein Lallen nicht mehr verstehen konnte oder er ging als Erster.
Trotzdem, ich mag ihn einfach, also, nicht verliebt oder so, aber er hört mir zu und wir haben uns immer alles erzählt. Darum besuchte ich ihn weiterhin am Nachmittag bei seinem Pferd. Er war oft merkwürdig, sagte nichts, starrte mich minutenlang mit seinen tiefschwarzen Pupillen an. Peinliches Schweigen. Als suche er mit seinen Augen etwas in mir. Jetzt glaube ich, dass es Vergebung war. Vielleicht hätte ich es ahnen können.
Dann starb auch noch seine Mutter, kurz vor seinem 18. Geburtstag. Ab da ging Jason zu keiner Party mehr. Ich war vier Monate auf einem Schüleraustausch in Italien. Und als ich wiederkam, war Jason fort.
Jeden zweiten Tag stand ich vor dem Haus seiner Oma, in dem Jason seit dem Tod des Vaters mit seiner Mama gelebt hatte. Doch auch die Oma war verschwunden. Die ganze Familie weg - oder tot. Ich fragte die Nachbarn nach dem Verbleib der beiden. Nicht einer konnte mir weiterhelfen. Trotzdem schaute ich jeden zweiten Tag dort vorbei.
Zwei Monate nach ihrem Verschwinden tauchte die Oma von Jason plötzlich wieder auf. Ohne Jason.
Ich bedrängte sie zu berichten, wo Jason sei. Ob es ihm gut gehe. Was er mache, wann er wiederkomme und so.
Sie würde es auch nicht wissen. Eine Lüge, wie ich sah, aber sie wirkte unsicher, voller Sorge. Das konnte ich spüren. Darum gab ich nicht auf und ging immer wieder hin.
Ein paar Tage später, am Abend nach einem dieser Besuche bei der Oma, kam ein zwergenhafter Mann zu mir. Er hatte den längsten Bart, den ich je gesehen habe, und trug einen altmodischen Anzug. Ständig zog er an seiner Krawatte. Der Zwerg wollte nicht reinkommen, fragte nur, ob ich Savien, die Freundin von Jason, sei. Ich nickte.
„Mein Name ist Rhodon. Die Oma von Jason meint, bei dir sind diese ... Aufzeichnungen am besten aufgehoben. Wenn du magst, darfst du sie veröffentlichen.“ Er redete französisch mit einem mir unbekannten Akzent. „Im Internet oder so“, ergänzte er noch. Das Wort „Internet“ sprach er aus, als ob er nicht wüsste, was damit gemeint ist. Dann übergab er mir 900 eng von Hand beschriebene Seiten. Die Handschrift war wunderschön, die Buchstaben wirkten liebevoll gemalt.
Dieser Rhodon sah skurril aus, wie aus einem Märchen entstiegen. Dicker Bauch, ein vergilbtes Hemd und Zöpfe im dunkelroten Bart. Erst wollte ich ihn fragen, ob er beim Zirkus arbeitet. Besser nicht, dachte ich, vielleicht wird er das ständig gefragt.
Seine Stimme klang brüchig, als er mir die Geschichte reichte, voller Trauer. Kein Wunder, muss ich jetzt sagen, nachdem ich sie durchgelesen hatte. Sein Volk ... Ein Großteil der Aufzeichnungen dürfte er aus Callums Tagebuch abgeschrieben haben.
Und dann waren sie endgültig weg. Alle. Jason kommt wohl nicht wieder, Rhodon sowieso nicht und das Haus der Oma steht zum Verkauf.
Nun sitze ich hier, starre auf die Blätter und ärgere mich. Die Chance meines Lebens war da und ich habe nicht zugegriffen. Warum habe ich den Zwerg nicht festgehalten, ihn ausgefragt, ihn ...? Warum habe ich nicht darauf bestanden mitzugehen!
Ich setzte mich auf, zog die Kerze näher und nahm die erste Seite vom Stapel. Denn wenn das wirklich wahr ist, was hier steht, müsste der Torstein irgendwo auf der Straße zum Sternentor liegen. Noch einmal las ich die Aufzeichnungen von Rhodon.
1.
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