Die Prüfung: Kriminalroman (German Edition)
möglichst viel vom Inklusiv-Büfett in den VIP-Lounges abzubekommen, als um das Fußballspiel.
Auch um Schönlieb herum waren noch einige Plätze frei. Der Stehplatzbereich unter ihm hingegen war schon proppenvoll. Der viel beschworene St.-Pauli-Mythos, dass Punker und Anwalt hier nebeneinanderstehen, ließ sich an mancher Stelle noch immer beobachten. Die unterschiedlichsten Leute standen dort zusammengedrückt auf der langen Geraden. Die meisten der wartenden Fans unterhielten sich, tranken Bier oder Glühwein und tippelten immer wieder von einem Bein aufs andere, um der Kälte entgegenzuwirken.
Schönlieb hatte noch nie Lust gehabt, längere Zeit zu stehen, und sich deshalb von Anfang an für eine Sitzplatzdauerkarte entschieden. Er war auch niemand, der sich gerne mitten in die Menge stellte. Er konnte auf diese körperliche Nähe gut verzichten. Hier oben hatte er seine Plastiksitzschale und einen kleinen, aber sicheren Abstand zum Sitznachbarn. So konnte er das Spiel in aller Ruhe beobachten.
Im Schein der hell strahlenden Flutlichter rieselten dicke weiße Schneeflocken unaufhörlich auf das Spielfeld nieder, die dank der Rasenheizung jedoch nicht liegen blieben. Die Atmosphäre war bei den späten Spielen unter Flutlicht immer eine ganz besondere. Man merkte, dass die Fans nicht direkt vom Frühstück ins Stadion pilgerten, sondern dass sie den Tag bereits hinter sich hatten und sich nun darauf freuten, an ihrem Feierabend von zweiundzwanzig Männern unterhalten zu werden. Der Platz war die Bühne und das Flutlicht die riesigen Theaterscheinwerfer, die die Szenerie in das rechte Licht setzten. Am Abend ein Fußballspiel zu besuchen erschien Schönlieb viel natürlicher als ein Besuch der Vormittagsspiele. Schließlich ging man ja auch nicht um ein Uhr mittags ins Theater, sondern abends um acht.
Das laute, diffuse Gemurmel und Gebrummel, der warme Teppich aus Tausenden Stimmen, die sich unterhielten, sich begrüßten, grölten, sangen, zuprosteten. Dieses wunderbare Wirrwarr gab Schönlieb ein einzigartiges Gefühl – das beruhigende Gefühl, dass er in diesem Moment nirgendwo anders sein wollte, dass es in den nächsten knapp zwei Stunden nur auf das Spiel ankommen würde. Alles andere war hinter den Tribünen, außerhalb dieser kleinen Welt, die als Mittelpunkt den grünen Platz hatte und in der alles, was wichtig war und über das man sich Gedanken machen musste, auf diesem Grün passierte.
Schönlieb atmete tief durch und blickte gut gelaunt um sich. Mittlerweile füllten sich die Sitzplätze um ihn herum. Auch der ältere Mann, der alle zwei Wochen rechts neben ihm saß, hatte sich heute wieder eingefunden. Mit einem kurzen »Moin« begrüßten sie sich, und mehr als dieses Wort hatten sie auch in den letzten drei Jahren, in denen sie nebeneinandersaßen, nicht gewechselt. Der »Ältere«, wie Schönlieb den Mann getauft hatte, war immer mit zwei Freunden da – den beiden »Jüngeren«. Sie kamen während eines Spieles auf vier Bier pro Person, nie mehr oder weniger, und sie gehörten zu der Sorte Fans, die sich schon beim ersten Fehlpass fürchterlich aufregten, denen man zugleich aber am wenigsten zutraute, selbst erfolgreich gegen einen Ball zu treten.
Die Sitzplätze links von Schönlieb waren nicht mit Dauerkartenbesitzern besetzt, und so war es jedes Mal eine kleine Überraschung, wer dort auftauchte. Heute hatte ein junges Paar neben ihm Platz genommen. Sie hatten es sich unter einer warmen Totenkopfdecke gemütlich gemacht und eine gut gefüllte schwarze Totenkopfplastiktüte aus dem Fanshop dabei, aus der sie zwei nagelneue St.-Pauli-Mützen herausgezogen und aufgesetzt hatten. Jetzt waren sie dabei, sich abwechselnd mit ihren iPhones zu fotografieren, und verzogen dazu auf die unterschiedlichsten Arten die Gesichter. Schönlieb vermutete, dass sie zu Besuch in Hamburg waren, und fragte sich, wie die beiden Karten für das Spiel ergattern konnten. Das war selbst nach dem Abstieg in die zweite Liga so gut wie unmöglich. Der junge Mann zeigte erklärend im Stadion mit seinem Zeigefinger herum, während seine Freundin nur immer mal wieder ein »Ahhh« und »Ohhh« ausstieß. Schönlieb wandte den Blick schnell wieder ab.
Endlich wurden vom Stadionsprecher die Mannschaftsaufstellungen verlesen. Bei den St.-Pauli-Spielern schrie das ganze Stadion die Nachnamen lauthals mit. Schönlieb und das Paar unter der Totenkopfdecke neben ihm nicht, obwohl Schönlieb die Namen durchaus alle kannte.
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