Die Prüfung: Kriminalroman (German Edition)
Vibrieren hätte er es gar nicht wahrgenommen, denn dafür war es hier im Stadion aufgrund der Fangesänge eindeutig zu laut. Er verzog das Gesicht. Es konnte nur beruflich sein. Er hatte es bis zu diesem Moment zwar erfolgreich verdrängt, aber er hatte heute Abend nun einmal Rufbereitschaft. Verdammt. Das hatte ja nicht gut gehen können: Heimspiel und Rufbereitschaft. Warum in aller Welt genau heute? Das hatte er auch seinen direkten Vorgesetzten, Kriminalhauptkommissar Holding, gefragt, doch der hatte überhaupt kein Verständnis dafür, dass man ein Fußballspiel der Rufbereitschaft vorziehen konnte. Holding lebte für seinen Beruf, und Schönlieb kam es oft so vor, als wohnte Holding in seinem Büro. Er war einfach immer anwesend. Er hatte auf Schönliebs Einwand nur nüchtern festgestellt, dass es einen festen Plan gebe und dass jede MB, so nannten sie die Mordbereitschaft, mal dran sei. Da müsse man halt auch mal in den sauren Apfel beißen. Im Grunde wusste Schönlieb auch, dass daran nicht zu rütteln war, es schmeckte ihm trotzdem nicht. Vier der sechs MBs, über die das LKA Hamburg verfügte, wechselten sich jeden Tag von Montag bis Donnerstag mit dem Tagesdienst ab, die fünfte Mordbereitschaft musste dann am gesamten Wochenende ran, das hieß von Freitag bis Sonntag. Montags war dann die sechste Bereitschaft dran, bevor es erneut von vorne losging. So wurde sichergestellt, dass jede MB die gleiche Belastung an Rufbereitschaften hatte. Das Wochenende war natürlich besonders unbeliebt, aber diesmal waren sie nun einmal dran gewesen: die Mordbereitschaft LKA 415.
Schönlieb überlegte kurz, wie er jetzt, beide Hände voll mit Wurst und Glühwein, das Gespräch annehmen sollte. Er sah den jungen Mann unter der Totenkopfdecke neben sich an.
»Hier, halt mal kurz«, sagte er knapp.
Verdutzt nahm der junge Kerl die Sachen widerstandlos entgegen. Schönlieb behielt lediglich die Papierserviette in der Hand und wischte seine Finger sauber. Er holte sein iPhone raus und fand seine Befürchtungen bestätigt.
»Hallo?«, schrie er aufgrund des Stadionlärms ins Telefon.
»Was’n das so laut bei dir?«, meldete sich eine – leider – vertraute grimmige Stimme: Wallner. Holding hatte damals bestimmt, dass er und der unfreundliche alte Kommissar, sooft es ging, zusammenarbeiten sollten. Er als so junger Anfänger bei der Mordkommission brauche jemanden wie Wallner an seiner Seite, hatte es geheißen. Das Einzige, was die beiden seither wirklich verband, war ihre gegenseitige Abneigung. Schönlieb wollte gerade antworten, da sprach Wallner schon weiter.
»Holding hat angerufen. Die Jungs vom KDD haben Bescheid gegeben. Du musst herkommen. Sofort. Uni-Campus, direkt vor dem Audimax. Ein toter Student.«
Schönlieb wollte gerade sagen, dass die Angelegenheit doch bestimmt noch vierzig Minuten warten könne oder sie doch auch ganz ohne ihn zurechtkommen würden, aber Wallner grummelte nur noch »Bis gleich!« und war dann weg.
Warum um Himmels willen musste ausgerechnet jetzt, an einem schönen Freitagabend, an einem Spieltag, schlimmer noch, an einem Heimspieltag, eine Leiche auftauchen? Schönlieb seufzte, schaute noch einmal wehmütig hinunter aufs Spielfeld, stand dann auf und ging, ohne den Kerl unter der Totenkopfdecke von seinem noch unangetasteten Glühwein und dem angeknabberten Restwurststück zu befreien.
Kapitel 2
Schönlieb schaute auf die Uhr. Sie zeigte 19:51 Uhr an. Teures Fabrikat. Der Schliff des Gehäuses war fein, und auf der Krone, dem kleinen Knopf am Rand der Uhr, war das Firmenemblem reliefartig eingraviert, auch das Lederarmband sah auf den ersten Blick hochwertig aus. Schönlieb war auf dem Gebiet kein Experte, aber er schätzte die Uhr als Original ein, zumal sie schon einige Zeit im Wasser gelegen hatte und noch immer funktionierte.
Sein Blick wanderte von der Uhr über den bereits starren Arm hinauf zum Gesicht des Toten. Asiatische Züge und auf den ersten Blick keine Narben oder Blessuren. Er lag im seichten Wasser, sein Gesicht war bleich und die Lippen leicht blau angelaufen. Er war kräftig und sportlich gebaut, er trug einen dunklen Cardigan über einem weißen Hemd, dessen zwei obere Knöpfe offen waren. Über dem Cardigan hatte er einen dicken schwarzen Wollmantel, der geöffnet unter ihm lag, sich leicht im Wasser bewegte und aussah wie der schwarze Umhang eines Superhelden. Der Tod sah anders aus. Wie der junge Mann so dalag, wäre es Schönlieb nicht einmal
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