Die Puppe: Psychothriller (German Edition)
niemandem gezeigt habe: Sie sei in Wirklichkeit gar keine Schwester gewesen, sondern ein männlicher Zwerg, verkleidet als Frau.
Vor viereinhalb Jahren, kurz bevor AJ hier angefangen hat, hatte eine anorektische Patientin namens Pauline Scott sich eingeredet, nachts komme etwas zu ihr ins Zimmer. Sie behauptete, es setze sich auf ihre Brust und versuche sie zu ersticken, und sie zeigte den Ärzten ihre blutverschmierten Schenkel. Die Worte Sei keine von denen, die begehen ruchlose Taten waren tief ins Bein eingeritzt. In Paulines Papierkorb fand man zwei auseinandergebogene, blutige Büroklammern – aber sie bestritt, etwas darüber zu wissen. Niemand konnte Pauline besonders gut leiden, und so fand man die eingeritzte Schrift an ihren Beinen passend. Sie kam zurück auf die Akutstation und wurde dort drei Wochen lang beobachtet.
Als AJ kurz danach seine Stellung antrat, sprachen die Kollegen von nichts anderem. Nachts wurde im Dienstzimmer geflüstert und gescherzt, und die Leute versteckten sich in dunklen Türen und erschreckten einander. Manche glaubten auch daran – eine Aushilfsschwester, die in der Nachtschicht arbeitete, schwor, sie habe kratzende Fingernägel an einer Fensterscheibe gehört, und weigerte sich, je wieder einen Fuß in die Klinik zu setzen. Eine etwas überspannte Sozialarbeiterin behauptete, sie habe aus dem Fenster geschaut und einen Zwerg in einem weißen viktorianischen Gewand auf dem Rasen hocken sehen. Der Zwerg habe nichts getan, nur das Haus beobachtet. Sein Gesicht war glatt und hell im Mondlicht.
AJ gehörte zu denen, die es ganz unterhaltsam fanden. Es war eine Ablenkung. Dann stattete »Maude« der Anstalt noch einmal einen Besuch ab. Und diesmal verging allen das Lachen.
Moses Jackson war ein Langzeitpatient – ein grauhaariger, unscheinbarer Mann mit dürren Gliedmaßen und einer unangenehmen Persönlichkeit. Ein richtig fieser kleiner Scheißer mit allem, was dazugehört. Bösartig, hinterhältig, rüpelhaft. Die weiblichen Mitarbeiter nannte er »Ritzen«, und dauernd zog er seine Hose herunter, um ihnen seinen Penis zu zeigen. Sie durften nicht mit ihm allein sein, was seine Versorgung kompliziert und noch zeitraubender machte. Wenn man ihm gegenüber etwas davon erwähnte, schrie er natürlich sofort »Rassismus!« und verlangte, dass die Vorstandsmitglieder des Kuratoriums kamen und ihm erklärten, was sie dagegen zu tun gedächten.
Damals war AJ noch Pfleger. Er war am Morgen zur Frühschicht erschienen, und im Haus hatte Chaos geherrscht: Schwestern rannten von Station zu Station, rafften Unterlagen an sich, griffen nach Telefonen. Handwerker mit Werkzeugkästen schlichen ein und aus, und ein unirdisches Geschrei kam aus der Station Butterblume. Die zuständigen Ruhigstellungspfleger waren auf einer anderen Station, und als AJ den Lärm nicht mehr ertragen konnte, beschloss er, selbst hinzugehen und sich darum zu kümmern. Moses stand mitten in seinem Zimmer, hatte die Arme um sich geschlungen und starrte weinend die Wand an. Jeder Zollbreit war mit rotem Filzstift bekritzelt. Hunderte und Aberhunderte von Wörtern – an den Wänden, den Fußleisten, sogar an der Decke.
AJ hatte vor Beechway schon in verschiedenen Einrichtungen gearbeitet und die schlimmsten und verrücktesten Dinge gesehen, aber das hier war mehr als bizarr. Einen Moment lang stand er stumm da und bestaunte das schiere Ausmaß des Schadens.
»Moses.« Er schüttelte den Kopf. Halb wollte er lachen, halb weinen. »Moses, Alter, warum haben Sie das gemacht?«
»Das war ich nicht.«
»Haben die Ärzte Ihre Medikamente geändert?« AJ musterte Moses aufmerksam. Er konnte sich nicht erinnern, dass in der Pflegeakte ein Vermerk gestanden hatte. Normalerweise bekam das Pflegepersonal klare Anweisungen, wenn sich etwas änderte, vor allem bei den Medikamenten. »Haben Sie gestern was anderes bekommen? Gestern Abend?«
»Ich war das nicht!«
»Okay«, sagte AJ geduldig. Es roch im Zimmer kaum merklich nach etwas wie verbranntem Fisch, und er öffnete einen der Lüftungsschlitze am Fenster. Sein Blick fiel auf die Genitalien des alten Knaben, die vor seinen dürren grau behaarten Beinen baumelten. »Wie wär’s, wenn Sie Ihre Hose wieder anziehen, Alter? Die Ärzte werden Sie untersuchen müssen – und da wollen Sie doch nicht, dass Ihr ganzer Männerladen da heraushängt.«
»Die hab ich gar nicht ausgezogen.«
»Na, wie wär’s, wenn Sie sie einfach trotzdem wieder anziehen?« Er reichte ihm
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