Die Puppe: Psychothriller (German Edition)
hatte, hereinzukommen und den Mitarbeitern fingerschnipsend mitzuteilen, wenn er an der Medikation eines Patienten etwas verändern wollte. Und wenn AJ darauf nicht reagierte, schrie er über die ganze Station: »Hey, Sie da – ja, Sie, Average Joe – Sie meine ich.«
Average Joe . AJ. Der Name ist hängen geblieben. Er ist unscheinbar, unauffällig, durchschnittlich in allem – Größe, Alter (43), Gehalt. AJ LeGrande. Klingt wie der Name eines Rappers. Tatsächlich hat er ein bisschen schwarzes Blut in den Adern, von seiner Großmutter, doch man würde es nicht vermuten: Sein dunkles Haar ist kein bisschen kraus, seine Haut hat nicht einmal die Farbe von Milchkaffee, sondern ist eher mediterran olivfarben, und er hat eine gerade, europäische Nase. Das Einzige, was er wirklich gern gehabt hätte, sind die Beine eines Schwarzen: lange, kräftige Fußballerbeine, wie Big Lurch sie hat. Beine, mit denen man sich auf den Sommer freut, weil man sie dann zeigen kann. Aber die hat er nicht; er hat gewöhnliche, haarige, weiße Beine. Was hat es für einen Sinn, eine schwarze Vorfahrin zu haben, wenn man den ganzen coolen Shit nicht erbt? Manchmal sagen Leute, wenn er überhaupt jemandem ähnlich sieht, dann Elvis Presley – aus einem bestimmten Blickwinkel, bei speziellem Licht. AJ wünscht, es wäre wahr. Wenn er nur ein Zehntel von Presleys Aussehen, seinem Talent oder seinem Charisma hätte, müsste er hier nicht arbeiten. Und schon gar nicht würde er mit wachsender Beklommenheit daran denken, wie er der Krankenhausdirektorin mit sehr ruhigen, rationalen Worten erklärte, dass es im Haus ein Gespenst gebe. Dass es ihm als Pflegedienstleiter nicht gelungen sei, den Wahnsinn unter Kontrolle zu bringen.
Mit müden, schweren Schritten geht er den Korridor entlang und öffnet diverse Sicherheitsschleusen mit seiner Magnetkarte. Die Direktorin, Melanie Arrow, hat die ganze Mannschaft aufgescheucht, als sie darauf bestand, dass ihre Büroräume aus dem Verwaltungstrakt in den klinischen Bereich verlegt wurden. Sie hat ein Zimmer im Zwischengeschoss beschlagnahmt, wo sie die Treppe zwischen dem oberen und unteren Stockwerk im Blick hat. Man hat den Raum renoviert und einen Durchbruch geschaffen, damit sie ein Bad und eine Küche hat, und es gibt dort ein Feldbett, auf dem sie oft die Nacht verbringt. Das ist ein abscheulicher Verstoß gegen unausgesprochene Regeln, denn es bedeutet, das Pflegepersonal hat eine Lauscherin in seiner Mitte, die sich angewöhnt hat, ganz unerwartet aufzutauchen und die Leute dabei zu erwischen, dass sie dösen oder Pornos anschauen.
Am Fuße der Treppe zögert er. Durch den Spalt unter ihrer Tür fällt Licht. Er weiß nicht, was das bedeutet: Hat sie die Nacht im Büro auf ihrem Feldbett verbracht, oder ist sie megafrüh zum Dienst gekommen? Wenn es eine Person gibt, vor der er sich unter Garantie unzulänglich fühlt, dann ist das Melanie Arrow. Sie ist die einzige Angestellte, die länger in Beechway ist als er, und sie ist notorisch streng und professionell. Hinter ihrem Rücken nennt man sie leise die »Ice Queen«. Komisch, als er noch Pfleger war, hatte AJ nie ein Problem mit Melanie gehabt; er hatte bei der Arbeit nicht direkt etwas mit ihr zu tun und ist ihr persönlich immer nur auf Mitarbeiterpartys begegnet, wenn niemand es besonders genau nahm. An einem alkoholseligen Abend, den er am liebsten aus seiner Erinnerung löschen würde, hat er sich sogar eingeredet, sie flirte mit ihm. Aber jetzt, als Pflegedienstleiter, hat er sehr viel mehr mit ihr zu tun. Allmählich sieht er deutlich, woher sie ihren Ruf als Ice Queen hat.
Langsam geht er die Treppe hinauf und klopft, ein wenig verärgert über seine eigene Nervosität. Nach langer Pause hört er: »Ja?«
»AJ.«
»Kommen Sie herein, AJ.«
Er öffnet die Tür und tritt zuversichtlich lächelnd ein. Den Blick richtet er auf einen Punkt, der ungefähr einen halben Meter weit vor ihrem Gesicht liegt, sodass er jeglichen Augenkontakt vermeidet. Sie sitzt an ihrem Schreibtisch, und der Computermonitor beleuchtet ihr Gesicht. Die kleine Brille mit dem Drahtgestell sitzt vorn auf der Nase. Er weiß, dass sie gestern einen Zwölf-Stunden-Tag absolviert hat – sie war mit ihm auf dem Strafrechtsforum und hatte unmittelbar danach noch eine Kuratoriumssitzung –, aber sie zeigt keine Müdigkeit. Sie ist eine kühle, kühle Blonde, organisiert und gefasst. AJ mag afrikanisches Blut in den Adern haben, doch Melanie hat ganz sicher
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