Die Puppe: Psychothriller (German Edition)
zu dösen, hallten Worte wie ein Sonar in seinem Kopf. Sanitäter. Holt einen verdammten Sanitäter … Boing boing boing. Ärgert dich aber dein rechtes Auge, so reiß es aus und wirf’s von dir … Ein Strudel von Bildern, die über die Wände kriechen. Blut und Knorpel auf den Warmhalteplatten der Kantine, brutzelnd zwischen den Waffeln.
Die Sanitäter sind schnell gekommen, aber Moses’ Auge konnten sie nicht retten. Zwei Wochen später kam er mit einem Glasauge und einer veränderten, kleinlauten Haltung zurück in die Klinik. Die Leute gingen ihm aus dem Weg, und zwar auf Zehenspitzen. Die Patienten tuschelten über das, was Moses an diesem Morgen gesehen hatte – es hatte ihn offenbar dazu gebracht, sich mit dem Löffel das Auge aus der Höhle zu stechen. Und was war mit der Schrift an seinen Wänden? Es blieb bei dem Getuschel, bis Pauline, die wieder in den Rehabilitationszyklus einsteigen durfte und sukzessive auf ihre Entlassung hinarbeitete, eines Tages während ihres »unbeaufsichtigten Geländefreigangs« verschwand. Die Polizei wurde hinzugezogen, Suchtrupps kamen und gingen, eine Untersuchung wurde eingeleitet. Zur großen Verlegenheit des Kuratoriums wurde der verweste Leichnam erst mehrere Monate später unter einem Laubhaufen in einer entlegenen Ecke des Geländes entdeckt, unmittelbar außerhalb des Suchperimeters. Die Verwesung war so weit fortgeschritten, dass die Todesursache bei der Obduktion nicht mehr festgestellt werden konnte. Kuratorium, Polizei, Pathologe und Rechtsmediziner einigten sich auf den Befund »Todesursache unbekannt«.
Danach breitete sich das Getuschel noch schneller aus. Hysterie griff um sich wie ein Lauffeuer, und alle redeten über »Maude« und die Spukerscheinungen. Bis dahin stabile Patienten gerieten in einen kritischen Zustand, Schreie hallten über die Stationen, Ruhigstellungsteams rannten durch die Korridore. Die Hälfte der Patienten auf der Entlassungsvorbereitungsstation wurde wieder auf die Akutstation verfrachtet, den Übrigen wurden die gemeinsamen Freizeitstunden, Urlaubstage und Privilegien gestrichen. Es kam zu Personalmangel und langen, verwickelten Besprechungen zwischen den verschiedenen Abteilungen, es gab neue Dienstanweisungen und allgemeines Chaos.
Die Therapeuten wurden einbezogen. Es war ein harter Kampf, die Situation wieder unter Kontrolle zu bringen, aber allmählich und indem sie den Patienten in Einzelsitzungen behutsam begreiflich machten, dass »Maude« nichts als eine Wahnvorstellung und ein Gerücht sei, kehrte wieder Ruhe ein. Vier Jahre vergingen ohne ein Murmeln. Niemand erwähnte den Spuk, und allmählich sah es so aus, als wollten die Geschichten über »Maude« in Vergessenheit geraten. Und dann ist Zelda Lornton vor drei Wochen schreiend aufgewacht, und ihre Arme waren mit Schriftzügen bedeckt. Bumm – war die Hysterie wieder da.
Das Wasser kocht. AJ gibt zwei gehäufte Löffel Pulverkaffee in seinen Becher und füllt ihn mit Wasser, Milch und Zucker auf. Er geht damit zum Fenster, bleibt dort stehen und nippt nachdenklich, während er zuschaut, wie der Tag in den Hof hereinkriecht. Das Unwetter ist vorüber, und der Garten ist nass. Die Stelle, an der die Sozialarbeiterin vor all den Jahren den Zwerg gesehen haben will, ist jetzt mit abgebrochenen Ästen und Laub bedeckt. Auf der einen Seite, kaum sichtbar unter den Bäumen, steht ein Grabstein – die letzte Ruhestätte eines Kindes, das hier in viktorianischer Zeit gestorben ist. Gegen Ende der Herrschaft Königin Victorias hat ein unbekannter Philanthrop das Geld für dieses Denkmal eines »unbekannten Gotteskindes« gestiftet. Es ist der einzige Grabstein, der noch da ist; die anderen Gräber sind im Zuge des Umbaus vor Jahren verlegt worden. Bei dieser Umbettung – so heißt es – wurde auch Schwester Maudes Grab verlegt. Ihr Geist wurde gestört und fand schließlich, Jahre später, den Weg zurück in die Klinik.
Also, denkt AJ. Es wird Zeit, den ganzen Prozess noch einmal in Gang zu bringen und »Maude« wieder in ihr Grab zu befördern.
Er hebt die Krawatte auf, die er am Abend abgenommen hat, und hakt sie wieder an den Hemdkragen. Dabei benutzt er den Computermonitor als Spiegel. Er atmet tief durch, streicht mit beiden Händen an den Revers seines billigen Anzugs herunter und betrachtet sein Spiegelbild. Der Name, der in seiner Geburtsurkunde steht, ist nicht AJ. Diesen Namen hat er vor Jahren von einem unverschämten Oberarzt bekommen, der die Gewohnheit
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