Die Puppe: Psychothriller (German Edition)
einzig Interessante bei der ganzen Veranstaltung. Den Rest kann man wirklich vergessen.
Er versucht noch ein wenig zu lesen, kann sich allerdings nicht konzentrieren. Er lässt die Zeitschrift fallen und sieht sich noch einmal im Zimmer um. Ein dicker, handgebundener Blumenstrauß steht in einem Eiskübel auf dem Tisch mit den Getränken. Caffery steht auf, geht hin und liest, was auf der Karte in dem Strauß steht. Die Blumen sind von der Zeitung, der Jacqui morgen ein Interview geben soll. Misty, ihre Tochter, ein fünfundzwanzigjähriges Model, ist vor anderthalb Jahren aus einer Entzugsklinik an der Grenze nach Wiltshire hinausspaziert. Sie war drogensüchtig und hatte Beziehungsprobleme mit ihrem Boyfriend, einem Fußballspieler, aber nichts davon erklärte, warum man sie nie wiedergesehen hat. Man hat in alle Richtungen gesucht, immer wieder – doch die Polizei tappt weiterhin im Dunklen. Eben war sie noch da, und am nächsten Tag war sie weg. Jedes Jahr verschwinden Tausende Personen, und wenn es sich um normale, erwachsene, vernünftige Menschen handelt, verwendet die Polizei bestürzend wenig Zeit auf die Suche nach ihnen. Aber Misty war so etwas wie eine Prominente, sie war jung und hübsch. Die Medien haben das Interesse noch lange wachgehalten, als die Polizei längst aufgegeben hätte. Jacqui Kitsons Gesicht erscheint regelmäßig in der Boulevardpresse – auf Bildern, die sie dort zeigen, wo Misty zuletzt gesehen wurde: Sie steht auf der breiten, weißen Freitreppe der Klinik und starrt nachdenklich hinauf zu dem Gebäude, in dem ihre Tochter ihre letzten Tage verbracht hat. Sie posiert mit einem Foto von Misty in der Hand und einem Taschentuch, das sie sich ans Gesicht hält. Sie beschimpft die Polizei auf jede nur erdenkliche Art und Weise, wirft ihr Inkompetenz vor.
Jedes Wort von ihr ist ein Messer zwischen Cafferys Rippen. Er ist als leitender Ermittler für die Suche nach Misty verantwortlich. Der Fall verfolgt ihn seit einer Ewigkeit und wandert zwischen MCIT und der Revisionsabteilung hin und her, und Mistys Name hat mittlerweile ein Loch in seinen Schädel gebrannt. Aber das ist längst noch nicht die ganze Wahrheit: Seit über einem Jahr verkleistert er das Problem, passt auf wie ein Schießhund und tut so, als arbeite er an der Aufklärung des Falls, während er das Dezernat gleichzeitig von dem ablenkt, was er in Wirklichkeit über Mistys Verschwinden weiß – denn das ist mehr, viel mehr, als irgendein Cop wissen dürfte. Es ist ein riesengroßes Geheimnis, das er da bewahrt, und er kann nichts ändern.
Behutsam schiebt er die Karte wieder zwischen die bunten Blumen. Kann nicht? Oder will nicht? Oder ist er nur noch nicht ganz bereit? Eine Sache muss er noch hinter sich bringen, und davor drückt er sich seit Monaten.
»Ich weiß es«, sagt Jacqui plötzlich vom Bett her. »Ich weiß es wirklich.«
Caffery hat gedacht, sie schlafe. Er steht auf und geht langsam hinüber. Sie öffnet die Augen nicht, aber sie nickt und zeigt damit, dass sie ihn zur Kenntnis nimmt. Sie hat sich nicht bewegt. Ihre Augen sind geschlossen, die Stimme klingt gedämpft.
»Ich weiß es.«
»Was, Jacqui? Was wissen Sie?«
»Ich weiß, dass sie tot ist.«
Dass Misty noch leben könnte, ist für die Polizisten, die den Fall bearbeiten, keine realistische Annahme mehr – schon seit vielen Monaten nicht. Caffery ist ein wenig erschüttert, als ihm klar wird, dass es Jacqui Zeit und Anstrengung gekostet hat, zu demselben Schluss zu kommen.
»Und ich kann damit zurechtkommen«, fährt sie fort. Ihre Augen sind immer noch geschlossen, und nur ihr Mund bewegt sich. »Ich komme damit zurecht, dass sie tot ist. Ich brauche nur eins.«
»Nämlich?«
»Ich muss sie zurückbekommen. Sie wissen nicht, wie es ist, wenn man keinen Leichnam hat, den man begraben kann. Das ist alles, was ich will.«
»Maude«
Der Legende nach ist »Maude« der Geist einer Oberin aus den 1860er Jahren. Von Geburt an kleinwüchsig, war sie durch blanke Entschlossenheit und Zielstrebigkeit zu einer leitenden Position im Armenhaus aufgestiegen. Und sie missbrauchte diese Stellung. Es heißt, wenn Kinder ungezogen waren, setzte Schwester Maude sich auf ihre Brust und löffelte ihnen »Medizin« in den Mund, bis sie fast erstickten. Oder sie zwang die Kinder, Bibeltexte abzuschreiben – Zeile um Zeile, bis ihre Finger bluteten. Manche Versionen des Mythos behaupten, Schwester Maude habe etwas unter ihren Gewändern gehabt, das sie
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