Die Quelle
Glaubt mir, Jehubabel, Ihr irrt Euch. Ich habe versucht, Tarphon behilflich zu sein, daß auch in Makor alles gut geht, und ich habe versucht, in Eurem Sohn Verständnis zu wecken für die Bedeutung unseres Reiches. Aber nicht ich bin wichtig, Menelaos ist es. Begreift Ihr denn nicht, was für einen prächtigen Sohn Ihr habt? Daß er eines Tages Statthalter dieses unseres Gebiets sein könnte?« Jehubabel wich vor dieser verführerischen Frau zurück. Jetzt konnte er verstehen, warum Benjamin ihrer Anziehungskraft zum Opfer gefallen war: Sie war schön und begehrenswert. Und zugleich erschreckte es ihn, daß solch eine Frau vom Reich und von der Erziehung junger Männer redete.
»Wenn Ihr nicht mit uns Hand in Hand arbeitet, Jehubabel«, sagte sie, »werden schwere Zeiten für Makor kommen. Nächste Woche schon wird eine weitere Haussuchung stattfinden, nach Beschnittenen.« Jehubabel hörte ihr nicht weiter zu. Er konnte nur noch an den Bäcker Zattu und seine Frau Anat denken. Gemeinsam mit den beiden hatte er gegen das Gesetz verstoßen, und wenn man ihnen auf die Spur kam, dann wurde diesmal auch er hingerichtet. Und angesichts dessen - so kam es ihm jedenfalls vor - sprach diese Frau von einer belanglos gewordenen gesellschaftlich-politischen
Angelegenheit: wenn die Juden sich ordentlich aufführen, kann ein Junge wie Benjamin eines Tages Statthalter werden, während ihn, Jehubabel, es trieb, den Bund zwischen JHWH und dem von Ihm erwählten Volk zu überdenken. In diesem Augenblick moralischen Hochmuts vermochte er nicht zu verstehen, daß Melissa weder von politischen noch von gesellschaftlichen Dingen sprach, sondern von etwas ganz anderem: von dem sehnenden Verlangen vieler Griechen nach einem festen moralischen Gefüge als der Ergänzung zu ihrem auserlesenen Sinn für künstlerische und philosophische Schönheit. »Meint Ihr, wir schämen uns nicht über die Geißelungen?« fragte sie. Doch sie sprach zu tauben Ohren, als sie leidenschaftlich um ein friedliches, harmonisches Miteinander von Juden und Griechen bat. Jehubabel sah in den Griechen jetzt nur noch die Unterdrücker voll brutaler Bosheit. Sie beschwor ihn, weiter Geduld zu haben und Verständnis aufzubringen für Antiochos, der doch nur die Welt des Ostens hellenisieren wolle. Doch für den Juden gab es nur den Epiphanes, der sich selbst zum Gott erhoben hatte - jenen wahnsinnigen Epimanes, der die Neugeborenen der Juden dahinschlachtete. Sie versuchte ihm auszumalen, welch eine Welt entstehen könnte, wenn der religiöse Eigensinn gebändigt würde. Aber er wollte gar nicht hören, was sie sagte. Sie sprach von einem Griechenland, das die Arme ausbreitete, um alle Völker in seinen Geist einzubeziehen. Er jedoch dachte an ein Judentum, das sich auf sich selbst zurückzog, um sich für die zukünftigen Heimsuchungen zu läutern. Die Zeit für ein fruchtbares Zwiegespräch zwischen Hellenismus und Judentum war vorüber; für eine kurze Weile hatte die Aussicht bestanden, zwischen den Geistigen Griechenlands und den sittenstrengen Juden so etwas wie ein Bündnis zu schließen, eine Vereinigung von hellenischem Charme und der unbändigen Willenskraft der Hebräer, mit dem Ziel einer kraftvollen Synthese. Aber die Griechen waren so unklug gewesen und die Juden so halsstarrig, daß nun der Bruch unheilbar geworden war. Zweihundert Jahre später und nicht weit entfernt von gerade dieser Stelle sollte der noch immer suchende Hellenismus eine anpassungsfähigere Religion entdecken, die in Galilaea geboren war, und dieses Aufeinandertreffen der Philosophie Griechenlands und des aus dem Judentum entstandenen Christentums sollte einen Funken aufblitzen lassen, der die Welt entzündete. Nicht ahnend, daß solches geschehen würde, ging Melissa traurig heim, überzeugt davon, daß für ihre Zeit der Versuch einer Verbindung zwischen Hellenentum und Judentum ergebnislos bleiben mußte.
Gleich nachdem Melissa gegangen war, schickte Jehubabel seine Frau fort, sie solle die verantwortlichen Männer der jüdischen Gemeinde und vor allem den Bäcker Zattu holen.
Als alle in der Küche versammelt waren, sagte er: »Nächste Woche sollen alle männlichen Säuglinge untersucht werden.« Zattu wurde blaß, aber er hatte gewußt, daß ihm dies früher oder später bevorstand. Er war darauf gefaßt, hoffte aber doch auf ein ermutigendes Wort des Sprechers der Juden. Jehubabel sagte es: »Wir müssen fort von Makor.«
»Wohin?« fragte Zattu. »In die Sümpfe.
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