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Die Quelle

Titel: Die Quelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James A Michener
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Verlegenheit geraten, wenn sie an einem Tag einen Mann verführte und ihn am nächsten der Vergewaltigung bezichtigte. Der wesentliche Beweis war stets der gleiche gewesen - schon in der Thora: »Hat sie sofort geschrien?« Die jüdischen Sittenlehrer wußten, daß eine Frau, die sich nicht so einfach und selbstverständlich verhält, verdächtig ist. Der vorliegende Fall Schimirit, Weib des Juda, war nur ein weiterer Beweis für diese alte Binsenwahrheit. »Etwas Böses ist geschehen«, sagte der Rabbi und wühlte in seinen Schriften, »aber das Böse ist nicht das, wessen du deinen Schwager beschuldigst. Das Böse ist, daß du einen Mann verlockt hast und ihn nun der Vergewaltigung bezichtigst.«
    »Rabbi!« Schimirit ließ ihre Schultern fallen, als habe man ihr mit einem Knüppel über den Rücken geschlagen.
    »Jawohl«, fuhr der Gesetzeskundige fort und kramte in seinen Schriftrollen, um die Stelle zu finden, die seinen Spruch bekräftigen sollte. »Ich habe die Worte hier irgendwo.« Endlich hatte er, was er wollte, die entscheidende Stelle im Buch Dewarim, dem Fünften Buch Mose: »... und ein Mann ergreift sie in der Stadt und schläft bei ihr, so sollt ihr sie alle beide zu der Stadt hinausführen und sollt sie beide steinigen, daß sie sterben - die Dirne deswegen, daß sie nicht geschrien hat, da sie doch in der Stadt war.«
    Er legte die Schriftrolle beiseite und sagte ernst: »Die Thora fährt fort, daß die Frau, wenn die Vergewaltigung auf dem Felde stattfand, nicht gesteinigt werden soll, denn vielleicht hat sie geschrien, und keiner hat sie gehört. Nach deinem eigenen Geständnis, Schimirit, könnte ich dich zum Tode verurteilen. Denn du hast den Bruder deines Mannes in der Stadt verführt. Hättest du geschrien - ich hätte dich sogar nebenan in der
    Synagoge hören müssen. Zweimal hast du deinen Schwager verführt, und jetzt kommst du und erhebst Klage. Ich lasse dich diesmal laufen. Aber bleibe dem Aaron fern, für den du solche Lust verspürst. Und wenn dein Mann Juda aus Ptolemais zurückkehrt, sei ihm eine gute Frau.« Nachdem er sein Urteil gefällt hatte, erhob sich der Rabbi hinter den verstaubten Rollen, die den ganzen Inhalt seines Lebens ausmachten. Schimirit aber war zu betroffen, als daß sie sich hätte bewegen können. »Wenn ich nach Hause gehe«, flüsterte sie, »wird mich Aaron wieder zwingen, ihm zu Willen zu sein.« Das bedeutete eine neue Schwierigkeit. Der Rabbi setzte sich wieder und suchte in seinen Schriften, bis er eine Stelle im Talmud zutage förderte, die diese Möglichkeit in Betracht zog. In aller Kürze faßte er sie für die Frau vor ihm in die Worte zusammen: »Wenn eine Frau wider ihren Willen von einem Mann gezwungen wird, dann soll sie besser sterben.« Er lächelte ihr mit falschem Mitleid zu und sagte mit süßlicher Stimme: »Du hattest das Messer in der Hand, nicht wahr? Du kennst das Gesetz, nicht wahr? Gestehe, Schimirit! Du hast ihn in Versuchung geführt, oder? Du hast dein Verlangen befriedigt, in der Art der Frauen?« Er stockte, dann bohrte er weiter: »Oder war es vielleicht deshalb, weil du wußtest, daß Aaron Kinder zeugen kann und Juda nicht?«
    Sie wandte sich ab von dem widerwärtigen Kerl. Aber zugleich begriff sie endlich, wie sehr sie sich mit ihrem Schweigen bloßgestellt hatte. Vor sich selbst wußte sie sich unschuldig. Das Schweigen war ihr aufgezwungen worden. Aaron hatte ihr den Mund zugehalten. Sie war hilflos gewesen, fassungslos, ohnmächtig. Aber es blieb ein Schweigen - sie mußte es zugeben. Von der Tür aus sah sie noch einmal voller Abscheu in das Zimmer des Rabbi mit all dem staubigen Wust. Sie war zu ihm gekommen, mit dem wohl Schwersten, das eine Frau ihrem Seelsorger anzuvertrauen hat. Aber sie hatte keinerlei Trost empfangen. Sie eilte, ohne sich dankbar dafür zu erweisen, daß der Rabbi, dieser Haarspalter, ihr den weisesten Rat gegeben hatte, den man in Sachen Vergewaltigung bis dahin gefunden hatte (und ein besserer ist noch immer nicht gefunden worden). Wenn die Frauen nicht in der Lage waren, ängstlich zurückhaltende Männer mit all der Schlauheit und List zu verlocken, über die schon die Vögel und die Tiere verfügen - wie sollte dann das Menschengeschlecht weiterbestehen? Und wenn die Männer, in den Grenzen des Schicklichen selbstverständlich, sich nicht den Frauen aufzwangen, wie sollte eine ängstlich zurückhaltende Frau je zu einem Mann kommen? Dieser Morast menschlicher Leidenschaft machte

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