Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Quelle

Titel: Die Quelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James A Michener
Vom Netzwerk:
es war ihr auch nicht entgangen, wie ihr Schwager seine großen Hände vor Wut ballte.
    Den ganzen Tag über war es ihr gelungen, sich vor ihm zu verstecken, damit er es sie nicht entgelten lassen konnte. Und als sie ihn gegen Abend das Haus verlassen sah, war sie froh gewesen. Als dann Leute kamen und riefen, Juda liege ermordet auf der Straße beim Olivenhain, hatte sie unwillkürlich auf Aarons Füße geblickt: Seine Sandalen waren voll Schlamm, beschmiert mit der dunklen Erde der Straße, die nach Damaskus führt. Laut schreiend war sie davongestürzt. Er aber hatte ihren Blick bemerkt. Und Schimirit war sicher, daß er wußte, warum sie geschrien hatte: nicht, weil ihr Mann tot war, sondern weil die dunkle Erde bewies, daß er der Mörder war.
    Juda war erst zwei Tage begraben, als der Rabbi zu Schimirit kam. Mit drei Gesetzesrollen bewaffnet, setzte er sich auf Judas Stuhl, faltete die Hände unter seinem schwarzen Bart und sagte salbungsvoll: »Dein Gatte ist gestorben, ohne Kinder zu hinterlassen. Ist das richtig?«
    »Ja.«
    »Du kennst unser Gesetz. Wenn ein kinderloses Weib zur Witwe wird, muß sie den Bruder ihres toten Mannes heiraten, auf daß sein Name nicht ausgelöscht sei in Israel.« Langes Schweigen. Schimirit hörte den kalten Regen vom Dach tropfen. »Es ist deine Pflicht«, sagte der Rabbi. Und das pausenlose Tropfen des Regens war wie ein Sinnbild der Pflicht, die das Gesetz gebietet. »Niemals werde ich den Mann heiraten, der meinen Gatten getötet hat«, sagte Schimirit kaum hörbar.
    »Ich könnte dich zur Steinigung verurteilen. Weil du falsches Zeugnis abgelegt hast.« Der Rabbi bebte. Und mit eindringlicher Stimme fuhr er fort: »Schimirit, heirate Aaron, wie es das Gesetz befiehlt. Du wirst Kinder haben zur Ehre Judas, und das Schreckliche wird vergessen sein.«
    Sie schwieg. Sie konnte nicht sprechen. Was das Gesetz von ihr verlangte, war widersinnig, war eine Beleidigung für sie, war fast abermals ein Verbrechen. Sie schwieg, weil sie nicht reden wollte. Stumm stand sie vor dem Rabbi mit zitternden Händen.
    Der Rabbi war gewillt, ihr ablehnendes Schweigen zu übersehen, denn er wußte von früheren Fällen her, wie schwer es junge Witwen treffen kann, wenn sie erfahren, daß sie sofort ihren Schwager heiraten müssen. Dieses Gesetz, in uralter Zeit gegeben, damals, als Mose die Juden durch die Wüste führte und das Überleben eines Stammes wichtiger war als alle menschlichen Erwägungen; dieses Gesetz, dessen Notwendigkeit man jetzt, unter den ganz anderen Umständen des seßhaften Lebens bezweifeln mochte - dieses Gesetz war doch immer noch Gesetz und mußte befolgt werden. »Die Pflicht ist dir vom HErrn auferlegt«, murmelte der Rabbi, »denn nur so ist das Weiterleben deines Mannes gesichert.« Er stockte, denn seine Worte hatten sichtlich keinerlei Wirkung auf Schimirit. Sie blieb stumm. Sie hatte zu diesem unfaßlichen Urteil nichts zu sagen. Der Rabbi ging, denn er sah ein, daß es sinnlos war, weiter auf sie einzureden, solange sie noch so aufgewühlt war durch den Tod ihres Mannes. Am Nachmittag jedoch erfuhr er, daß die Juden von Makor sich unter dem Eindruck der Geschehnisse in zwei Parteien spalteten. Die einen sagten: »Rabbi, Ihr wißt sehr wohl, daß Aaron seinen Bruder ermordet hat. Warum besteht Ihr darauf, daß Schimirit ihn heiratet?« Ihnen antwortete der unfähige Rabbi: »Ich könnte anordnen, daß ihr dafür gesteinigt werdet.« Die andere Gruppe meinte: »Das Gesetz verlangt, daß eine kinderlose Witwe sofort den Bruder ihres Mannes heiratet. Warum erlaubt Ihr den Aufschub?« Zu ihnen sprach der Rabbi: »Ich tue die Dinge, wann ich es für richtig halte.« Aber von Tag zu Tag mußte er zusehen, wie sich die Spaltung vertiefte und die feindlichen Parteien immer nachdrücklicher auf ihrer Forderung bestanden.
    Schließlich ging der Rabbi spät im November, eine Schriftrolle unter dem Arm, in das Haus des Färbers. Hier teilte er Schimirit sein hartes Urteil mit: »Ich befehle dir, deinen Schwager Aaron noch heute zu heiraten.«
    Schimirit hatte auf diesen Augenblick gewartet. Wieder blieb sie stumm, fest entschlossen, sich diesem fürchterlichen Urteil nie zu beugen, auch wenn dies für sie Ausstoßung oder Steinigung bedeutete. Sie hörte nicht auf den Rabbi, sondern auf den Regen. Aus seinem Rauschen schöpfte sie den Mut zu ihrem Entschluß. Sie fühlte die graue Kälte des Novembertages bis in ihr Herz dringen und ihr Blut zu Eis erstarren. Nie, nie, nie

Weitere Kostenlose Bücher