Die Quelle
sorgfältigst erdachte Regeln notwendig. Hatte man solche Regeln, so mußten sie ebenso sorgfältig befolgt werden. Was Vergewaltigung ist, war im Talmud wissenschaftlich genau erklärt. Eine Frau, die den Bruder ihres Mannes einmal zu sich gelassen, zwei Tage gewartet, es abermals getan hatte und dann erst darauf gekommen war, »Hilfe!« zu schreien - eine solche Frau konnte den Schutz des Gesetzes nicht für sich in Anspruch nehmen.
Auch in dieser Nacht fiel immer noch kalter Regen. In der Morgendämmerung kletterte Schimirit, verstört und gequält von Scham, auf das flache Dach ihres Hauses und sah voller Sehnsucht nach den fernen Kirchtürmen von Ptolemais. Inbrünstig betete sie, ihr Mann möge heute endlich heimkehren. Andernfalls war sie entschlossen, ihn in Ptolemais zu suchen.
Es war, als sei ihr Gebet erhört worden: Juda verließ Ptolemais am späten Nachmittag. Noch vor Sonnenuntergang wollte er in Makor sein. Aber auf halbem Wege mußte er in einem Schafstall Zuflucht suchen, weil ein schwerer Sturm vom Meer her über die Ebene fegte, so daß er erst nach Einbruch der Nacht in Makor ankam. Schimirit, die noch immer auf dem Dach stand, sah ihn schon von weitem kommen. In fliegender Hast lief sie ihm entgegen. Noch vor der Stadt stürzte sie sich in seine Arme, um wenigstens bei ihm Trost zu finden. Und mit zuckendem Mund erzählte sie ihm all das Schreckliche, das sie hatte durchmachen müssen. Juda blieb auf der Straße stehen wie ein Mann, den eine schwere Last drückt. Leise fragte er: »Wo war Aarons Frau?«
»Draußen, sie spielte mit den Kindern.«
»War denn niemand in der Synagoge?«
»Vielleicht.«
»Warum hast du nicht geschrien?«
»Ich konnte nicht. Und dann habe ich mich geschämt.«
Immer noch stand Juda still. Dunkel war es, und der Regen fiel. Lange dachte Juda nach. Genau das gleiche hatte Schimirit dem Rabbi erzählt. Jetzt aber hörte ihr einer zu, der ein Herz im Leibe hatte. Juda wußte, wie geradezu scheu seine so stattliche Frau schon immer gewesen war, er wußte, wie wenig eitel sie auf ihre Schönheit war und wie außergewöhnlich ehrlich selbst in Kleinigkeiten. Er glaubte ihr
- und fühlte sich doch zugleich auch verpflichtet, seinem jüngeren Bruder gegenüber gerecht zu sein. »Hast du ihn nicht doch irgendwie verlockt?« fragte er. »Nein.«
Dieses eine Wort genügte ihm. Er legte seinen Arm um sie und küßte sie. »Du bist frei von Sünde«, sagte er tröstend. »Dein Körper ist geschändet worden, nicht aber deine Seele. Du hast den Mut gehabt, zu mir zu kommen und mir all das zu sagen. Dann hast du auch den Mut, die Folgen zu tragen.« Er küßte sie nochmals. Die Lippen auf ihr schwarzes Haar gedrückt, flüsterte er: »Ich liebe dich, Schimirit, ich liebe dich von ganzem Herzen. In Ptolemais habe ich mich jeden Augenblick nach dir gesehnt. Geh jetzt nach Haus und warte dort auf mich.«
»Was hast du vor?«
Er brachte sie bis zu der Straße, die hügelaufwärts nach Makor führte. Dort drehte er sich um und ging dann in den Olivenhain. Sie aber kam ihm nach, hielt ihn am Ärmel fest und fragte nochmals: »Was hast du vor?«
»Ich weiß es nicht!« schrie er, zornig vor Ratlosigkeit. »Geh jetzt!« Während seine Frau in ihr kaltes Haus zurückkehrte, ging er allein im Olivenhain auf und ab, bedachte das Furchtbare und suchte angestrengt nach einer Lösung. Wahrscheinlich fand er sie auch, aber niemand hat sie erfahren, denn als er unter den alten Bäumen dahinging, packten ihn starke Hände. Er wurde erdrosselt. Es ist unbekannt geblieben, wer Juda den Färber getötet hat. Man vermutete, die Schäfer, bei denen er Zuflucht gesucht hatte, seien ihm gefolgt und hätten ihn in der Dunkelheit umgebracht. Doch das erschien nicht sehr einleuchtend, denn er war nicht beraubt worden. Andere vermuteten, Strolche aus Tiberias seien es gewesen, die sich nach der Einnahme der Stadt durch die Araber umhertrieben. Schimirit wußte es besser. Denn als sie am Morgen des Tages, an dem ihr Mann erwürgt wurde, auf dem Dach stand und betete, hatte sie gesehen, wie der Rabbi leise zu den Färberbottichen gekommen war und Aaron beiseitegenommen hatte, um ihm ins Gewissen zu reden. Sicherlich war der Rabbi, der schon sie als unzuverlässiges Weib so scharf verurteilt hatte, zu Aaron noch sehr viel härter gewesen. Sie hatte zwar die Stimmen der beiden nicht hören können, glaubte aber ziemlich genau zu wissen, daß der Rabbi dem Schwager von ihrem Besuch erzählt hatte, und
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