Die Quelle
Faust ins Gesicht. Die Sinne schwanden ihr, erschöpft fiel sie zurück, wie durch einen dichten Nebel fühlte sie, daß er sie vergewaltigte. Als Aaron fort war, flüsterte Schimirit: »Gott meiner Väter, was soll ich tun?« Und wie viele, die diese äußerste Erniedrigung hatten hinnehmen müssen, traf sie die tödlich falsche Entscheidung. Blutend lag sie auf dem Boden, so erstarrt, daß sie nicht sofort schreien konnte. Sie hatte es versucht; sie hatte sich gewehrt, wie eine Frau sich nur wehren kann. Aber der Mund war ihr verschlossen worden, und ihre Schreie wurden nicht gehört. Jetzt, da die anderen sie hören konnten, blieb sie stumm vor Scham und Entsetzen. Die Stunden vergingen und bestätigten ihr Schweigen. Ein kalter Regen fiel in Galilaea. Der Winter war da. An diesem Abend erschien Aaron zum gemeinsamen Essen mit zerkratztem Gesicht, aber glühend in tierischer
Befriedigung. Überzeugt, daß das Schweigen seiner Schwägerin nur Ausdruck ihrer Freude über das war, was er ihr am Morgen angetan hatte, grinste er sie mit unverhohlener Gier an. Schimirit war zutiefst bestürzt, als sie merkte, wie er ihr Schweigen auslegte. Seine Tochter fragte, wer ihm das Gesicht so zerkratzt habe. Mit einem schnellen siegesbewußten Blick zu Schimirit hinüber antwortete Aaron: »Ein Kätzchen mit einem olivenfarbenen Köpfchen.«
Die nächsten beiden Tage wurden Tage des Grauens. Draußen wütete dei Sturm, schwarze Wolken zogen vom Meer herauf, Ptolemais lag in Dunkelheit. Im Haus seines Bruders aber pirschte sich Aaron an seine Schwägerin heran wie der Jäger an das Wild. Endlich hatte er sie gestellt. Mit theatralischer Geste schlug er sein Gewand auf. Nackt und geil stellte er sich vor sie, völlig dessen sicher, daß auch sie diesen Augenblick herbeigewünscht hatte. So überzeugt war er von Schimirits Liebe, daß er ihr angstvolles Zurückweichen gar nicht sah. Er trat auf sie zu, wollte wiederholen, was ihm ein Spiel schien. Aber diesmal war sie vorbereitet. Sie riß ein Messer aus ihrem Kleid, bereit, auf ihn einzustechen, sobald er sie berührte. Für einen Augenblick war er verblüfft.
Doch schon warf er mit erstaunlicher Schnelligkeit sein Gewand von sich, lenkte sie mit einer Finte ab und entrang ihr mit einer Hand das Messer, während er mit der anderen ihren Mund zuhielt, ehe sie schreien konnte. So also will sie das Spiel, dachte Aaron. Das Messer hat sie nur genommen, damit ich sie entwaffne und überwältige. Das macht ihr Vergnügen, erhöht ihren Genuß. Sie soll ihr sonderbares Spiel haben. Krachend traf seine Faust ihr Kinn. Halb ohnmächtig schon, taumelte sie zurück. Er zog sie aus und warf sie auf den Boden. Zu spät, zu spät lief sie schluchzend, eine Geschändete, aus ihrem geschändeten Haus, um bei dem Rabbi Zuflucht zu suchen. Sie fand ihn in seinem unordentlichen Zimmer hinter einem Berg von Schriftrollen. Dumpf ahnte sie, daß sie den Falschen um Hilfe bat. Er saß da, die blassen Hände unter seinem Bart gefaltet, und hörte ihr zu. Ehe er mit einem Ja oder Nein seine Meinung kundtat, suchte er unter seinen Schriftrollen, bis er die ihm passende fand. Stumm las er, was dort stand, und dann erst fragte er einfach: »Aaron hat dich also vergewaltigt?«
»Ja.«
»Wie oft?«
»Zweimal.«
»Das erste Mal?«
»Vor zwei Tagen.«
»Und du hast nicht geschrien?«
»Ich konnte nicht.«
»Und danach hast du es niemandem erzählt?«
»Ich habe mich zu sehr geschämt.«
Der Rabbi zupfte an seinem Bart und stellte eine sehr wichtige Frage. »Wo hat er dich überfallen?«
»In unserm Haus.«
»Bei der Synagoge?«
»Ja.«
Der Rabbi setzte sich zurück und blickte die Frau an. O ja -er verstand. Aber er glaubte nur zu verstehen. Es war die alte Geschichte. Jeder Richter kannte sie, die Geschichte von der Frau, die halb lockend, halb sich verweigernd ihren Liebhaber ermutigt hatte, nur um dann Tage danach als die Beschämte und Gedemütigte anzukommen. Die Thora war voll von Berichten über geschlechtliche Maßlosigkeiten, denn schon die Patriarchen waren Männer der Lust gewesen und ihre Frauen womöglich noch schlimmer, voller List und Verführungskunst und Gelegenheitsmacherei. Fast zwei Jahrtausende hatte es gedauert, bis die kaum zu zähmenden Leidenschaften der Juden sich beruhigt hatten. Viel Kraft war von den Rabbinen darauf verwendet worden, vernünftige Regeln aufzustellen. Aber an einer Sache hatten sie nie gezweifelt: Auch die vorsichtigste Frau konnte in die ärgste
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