Die Quelle
seien, damit ihre Abgaben größer werden. Ich mußte dem jungen Herrn Grafen Lateinisch und Griechisch beibringen, und sein Großvater, der Burgvogt Lukas, vervollständigte seine Kenntnisse im Arabischen und Türkischen. Als der Knabe sechzehn Jahre alt war, schloß mein Herr Gunther einen Ehevertrag mit einer edlen Familie in Edessa für ihn, und als der Tag kam, gingen Herr Gunther und mein junger Graf Volkmar ungeduldig auf dem Wehrgang hin und her, bis meine junge Frau Gräfin einen Sohn zur Welt brachte. Da rief Herr Gunther: >Bei Gott, jetzt, Volkmar, bist du würdig, dieses Land zu besitzen<, und es war dieser zweite Graf Volkmar, der die Grenzen des Lehens erweiterte.«
In jener ersten Nacht schlug der achte Graf Volkmar sein Lager am Rand der Sümpfe auf, die zwischen Ma Cœur und Nazareth liegen. Am Morgen weckte einer von der Wache die Schläfer mit dem Ruf: »Die Störche steigen auf!« Die Pilger beeilten sich, diesen großartigen Anblick, den Galilaea alljährlich bietet, nicht zu versäumen: Fünf Störche aus einem großen Schwarm, der sich auf dem Flug nach Norden befand und während der Nacht bei den Sümpfen geruht hatte, ließen sich von der warmen Luftströmung, die vom Land aufstieg, rasch emportragen, ohne ihre großen schwarzen Flügel bewegen zu müssen. Herrlich waren die weiten Spiralen anzusehen, in denen die schwarzweißen Vögel mit dem roten Schnabel und den langen roten Beinen dahinglitten.
Jetzt folgten auch die anderen Störche, die noch auf der Erde geblieben waren. Mit ungeschickt wirkenden Sprüngen und ausgebreiteten Schwingen warfen sie sich in den Aufwind, um sich hoch droben von den Luftströmungen davonführen zu lassen ins ferne Europa. Volkmar und sein Sohn sahen die mehr als hundert Störche wie in einer geheimnisvoll sich drehenden Säule nach oben steigen, einer über dem andern, bis sich die obersten im Himmel verloren. Volkmar zitierte ein Wort des Propheten Jeremia, der einst diese Vögel auch so über Galilaea hatte fliegen sehen: »Der Storch unter dem Himmel weiß seine Zeit.«
»Ein Zeichen für uns«, bemerkte einer der Ritter und deutete auf die Vögel: Der lange Hals, die weit nach hinten gestreckten Beine und die Flügel bildeten ein Kreuz - eine ganze Säule von Kreuzen reichte da, einer überirdischen Erscheinung gleich, von der Erde zum Himmel.
»Ein Zeichen Gottes!« sagten auch andere Ritter. Alle entblößten die Häupter und bekreuzigten sich. Volkmar jedoch, der sah, wie da und dort ein Storch mit den Flügeln zu schlagen begann, weil er den Aufwind verließ, dachte sich: Das ist kein Omen, sondern eine Warnung. Sie fliegen nach Deutschland, und bald werden sie auf den Türmen und Schornsteinen von Gretsch nisten. Diese Störche hier sollen mich und die Meinen mahnen, in die alte Heimat zurückzukehren. Noch Tage danach quälte ihn das Bild der Kreuze am Himmel.
Einer der Krieger, der sich in den Sümpfen auskannte, übernahm die Führung. In langer Reihe zogen die Pilger durch Moor und Wasser und Sumpfwald - durch jene unheimliche Landschaft, die seit eh und je die abenteuerlustigen Männer dieser Gegend angelockt hatte - nach Süden. Sie führten ihre Pferde auf schmalem Pfad dahin. Graue und weiße Reiher flogen auf. Vielerlei Blumen blühten, Schwertlilien, Tulpen, Orchideen und der sonderbare Aronstab.
Am Ende des Sumpfes wieder auf festem Boden angelangt, ritten die Pilger das letzte Stück Weges nach Nazareth. Hier entfaltete sich der überwältigende Reichtum Galilaeas: Bienenfresser schossen durch die Zweige. Ölbäume schimmerten silbern im Sonnenlicht, die Blüten des roten Mohns strahlten am Weg wie Leuchtfeuer. Laß die Störche nach Deutschland ziehen, dachte Volkmar. Wie kann man aus diesem Paradies fortgehen? Er war entschlossen, hier, auf seinem Lehen, zu bleiben.
Nazareth schien noch ein festes Bollwerk der Christenheit in einem Land, das im übrigen schon ganz den Ungläubigen gehörte. Volkmar verließ seine Leute und ging allein zu der Grotte, in der einst der Erzengel Gabriel der Jungfrau verkündet hatte, daß sie Jesu Mutter sein werde. Es war ein eher beängstigender Ort, mehr eine enge Höhle als eine Grotte, feucht die Wände. Aber Volkmar spürte hier deutlich die Gegenwart Marias und des Erzengels. Dafür hatten die Deutschen, die Franzosen und die Engländer gekämpft: daß die Christen aus aller Welt ungehindert diese heiligen Stätten besuchen und dort beten konnten. Nun aber, nach zweihundert Jahren Krieg,
Weitere Kostenlose Bücher