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Die Quelle

Titel: Die Quelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James A Michener
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aus eigener Kraft niederzukämpfen vermocht. Ob es nicht vielleicht eine geheimnisvolle Macht gab, die ihnen dabei geholfen hatte, weil sie voll Furcht war wie sie und sich deshalb mit ihnen verbündete, den Eber zu töten? Da rissen ihn die Männer der
    Höhle aus seinen Gedanken: »Wir sind bereit«, riefen sie. Ur verließ seine Felder und führte sie in den düsteren Sumpfwald. So wandte sich seine Frau an den Sohn mit ihrer Frage. Aber noch ehe sie recht hatte sagen können, was sie bewegte, merkte sie, daß er ihr bereits zuvorgekommen war. Er saß auf einem Stein neben dem Weizenfeld und sah stumm dem Aufbruch der Jäger zu. Dann sagte er seiner Mutter, was ihm durch den Kopf ging: »Im Wadi leben viele Vögel. Die mit den schwarzen Köpfen, die am Abend singen, und die wunderschönen mit den langen Schnäbeln und den blauen Flügeln, die ihre Nester als Höhle ins Ufer graben und Fische fangen. Und die Haubenlerchen, die da draußen auf dem Feld herumlaufen und Körner suchen. Und den schnellen Vogel, der schneller ist als alle anderen.« Er zögerte. »Den Bienenfresser.« Er deutete auf einen Vogel, etwas größer als seine Hand, der mit langem Schnabel, blau und grünem Körper und bunten Flügeln unter den Bäumen hin- und herschoß. Es war ein herrlicher Vogel; in schönem Bogenflug schwang er sich in den Himmel. Aber Urs Sohn hatte jetzt kein Auge für seine Schönheit. »Sieh! Er fängt eine Biene mitten im Flug. Er trägt sie zu einem abgestorbenen Ast. Und dann frißt er sie. Und das tut er den ganzen Tag.«
    Urs Familie wußte besser als die meisten anderen, was die Bienen am Wadi Gutes bedeuteten. Eine der frühesten Erinnerungen des Knaben war, wie sein von Stichen halb erblindeter Vater heimkam und stöhnend und seinen Bart klopfend einen ganzen Schatz Honig mitbrachte. Die Bienen waren ihrer Stiche wegen gefürchtet, aber wegen ihres Summens und des Honigs liebten die Menschen sie. Daß nun aber dieser Vogel nur von Bienen lebte, machte Urs Sohn nachdenklich: Wie durfte dieses so herrliche anzusehende Wesen ein anderes töten? Warum waren zwei so schöne Dinge so verfeindet?
    Er fragte seine Mutter: »Wenn eine Biene so viel Gutes im Wadi tut und doch von einem so schlimmen Feind wie dem Vogel gequält wird.« Sein Blick folgte dem bunten Räuber, der sich im Gleitflug auf eine Biene stürzte, die von den Blumen zurückkehrte, und sie packte. Es war gräßlich. »Haben wir auch Feinde da oben am Himmel, die darauf warten, sich auf uns zu stürzen?« Er schwieg wieder und suchte nach Worten für dasselbe, was bereits seine Mutter beschäftigt hatte. »Stell dir vor«, sagte er, »der Regen hat einen eigenen Geist. Oder die Sonne? Was wird dann aus unserem Weizen?«
    Eine andere Beobachtung brachte den Jungen auf eine noch verwirrendere Frage. Die Zypressen, die hohen Bäume, die an den Feldern dunkel in den Himmel ragten, waren wunderbar. Jedes Jahr brachte so ein Baum viele kleine Zapfen hervor, alle von der Größe einer Daumenspitze. Auffallend aber war, daß jeder neun Schuppen hatte, vollendet genau aneinandergefügt und so die Samen dahinter bedeckend. Niemals waren es acht Schuppenblättchen und niemals zehn, sondern immer neun, und immer so zugepaßt, daß es kein Zufall sein konnte. Irgendein Geist mußte in der Zypresse sein, der die Zapfen absichtlich so wachsen ließ. Wenn das aber für einen Baum galt, warum sollte es nicht auch für das Feld zutreffen, auf dem der Weizen wuchs? Und für den Weizen selbst?
    Der Knabe saß mit seiner Mutter in der Sonne und grübelte weiter darüber nach. Ein Bienenfresser flog in strahlendem Bunt vorüber und verschwand bei den Zypressen, die wie Wächter dastanden. Ein quälender Gedanke durchfuhr den Knaben, ein Gedanke, den er nicht leicht in Worte fassen konnte, aber auch nicht zu unterdrücken vermochte. Drei Haubenlerchen hüpften vorbei und pickten Körner auf. Er starrte wieder auf die Zypressen und fragte: »Und wenn kein Geist in der Zypresse ist, der die schönen Zapfen macht? Und wenn der Regen kommt und ausbleibt, nicht weil der Regen das so will.?« Seine Gedanken führten ihn weit fort, ins undeutlich Dunkle, wo er sich nicht mehr zurechtfinden konnte. So ließ er von ihnen ab. Aber die Angst, die in ihm aufgestiegen war, sie blieb. Nun wäre es falsch, wollte man behaupten, die Angst sei eine Folge der Entdeckung des Weizenbaus gewesen. Angst hatten die Menschen schon immer gekannt, auch Ur und die Seinen. Ur wußte sehr wohl, was

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