Die Quelle
gern getan hatte. »Ein Junge wie du hat zu lernen, wie man einen Löwen tötet«, sagte
Ur eines Tages in scharfem Ton. »Wie willst du sonst eine Frau finden?« Oder hatte sein Sohn keinen Mut, weil er doch immer nur an die Feldarbeit dachte oder Feuersteine zurechtschlug? Doch dann erinnerte sich Ur daran, daß sein Sohn es gewesen war, der im wildesten Unwetter die Flut bezwungen hatte. »Dumm und faul ist er wenigstens nicht«, brummte der Alte.
Was Ur nicht wußte, war dies: Sein Mißbehagen kam nicht etwa daher, daß sein Sohn ihn enttäuschte, sondern von dem jähen Wechsel zu einer neuen Lebensweise, der allein ihn zu treffen schien: Er war ein Jäger, der jetzt Getreide anbauen mußte, ein Höhlenmensch, der nun in einem Haus leben mußte. Einst hatte er sich unbefangen dem Spiel der Kräfte in der Welt ringsum eingefügt; jetzt mußte er sich auf immer mehr Gottheiten einstellen. Vor allem aber war er einst glücklich gewesen, Gleicher unter Gleichen in der Höhle, und jetzt sollte er nur der eine Ur sein, ganz auf sich selbst gestellt
- ein Mann, der zwar noch wußte, wie man Löwen jagt, aber nun schon zu einer Zeit lebte, in der die Löwen sich zurückzuziehen begannen ins menschenleere Innere des Landes.
Im dritten Jahr dieser Wandlung lief er eines Morgens aus seinem Haus. Ihm war, als wolle ihn dies alles erdrücken. Er rannte am Eingang der Höhle vorbei den Pfad hinauf zum großen Felsen, kletterte bis zur höchsten Stelle und atmete tief durch. Doch es wurde ihm nicht besser. Entsetzen befiel ihn. »Was geschieht mit mir?« fragte er sich verzweifelt. In dieser Stunde, in der ihm zum ersten Male das Nahen seines Todes bewußt wurde, sah er seine Tochter in den Feldern. In ihr fand er den Trost, den ihm sein Sohn nicht geben konnte.
Vierzehn Jahre war sie jetzt alt, ein hübsches Mädchen mit langen braunen Beinen und einem anmutigen Hals, den sie mit Muschel- und Steinperlenketten schmückte. Sie war nun nahezu erwachsen, reif für die Mutterschaft und für ein eigenes Heim, hatte sich aber ihr kindlich-lebhaftes Wesen bewahrt. Von ihrer Mutter lernte sie Leder gerben und nähen. Wie die Ihren fühlte sie sich den Kräften in der Welt ringsum verbunden, und wie ihre Mutter fühlte sie, daß es eine Möglichkeit geben müsse, die unsichtbaren Geister geneigt zu stimmen. Ur war stolz auf seine Tochter: Dem Mann, der sie einmal holt, wird sie die runde Hütte warm und behaglich halten, dachte er, und ihr kräftiger Körper verspricht viele Kinder. Noch aber war sie für Ur und sein Weib vor allem ein Kind.
In einem Baum nahe der Quelle hatte ein Paar schwarzköpfiger Vögel sein Nest gebaut. Mit Freude hatten Ur und die Seinen beobachtet, wie die Vogeleltern emsig hin- und herflogen, ihre Jungen zu füttern. Sie sangen hübsch, und es war schön, sie zu Nachbarn zu haben. Als die vier Jungen größer wurden, merkten die Vogeleltern, daß eines ein lahmes Bein hatte. Wie Vögel es in solchen Fällen tun, schoben sie den Schnabel unter den Schwächling und warfen ihn aus dem Nest. Halb flog er, halb fiel er zu Boden, wo er bald gestorben wäre, hätte Urs Tochter ihn nicht gesehen und aufgehoben. Sie pflegte ihren Findling gesund, dessen eines Bein zwar auch weiterhin kraftlos blieb, der sich aber sonst zu einem kräftigen Vögelchen entwickelte, das munter um die Quelle oder über die flache Felsplatte hüpfte, auf der das Mädchen manchmal lag und in den Himmel blickte. Und eines Tages begann der Vogel auch zu singen. Oft flog er weit fort, um Insekten zu fangen, aber immer kam er wieder zur runden Hütte zurück, ließ sich auf der Schulter seiner Herrin nieder, pickte an ihren Perlen und zwitscherte ihr ins Ohr. Ur hatte den Vogel gern. War er nicht ein beruhigendes Zeichen dafür, daß die Vögel des Waldes den Menschen an der Quelle nicht zürnten, weil sie die Höhle verlassen und ein neues Leben begonnen hatten?
Das Mädchen aber liebte ihren Pflegling: Sich selbst dessen nicht bewußt, sah sie in ihm den letzten Vertrauten ihrer Kindheit und zugleich den Mahner an künftige, ernstere Jahre. Als Ur einmal sah, wie der Vogel auf seinem gesunden Bein hinter ihr herhüpfte, schlang er die Arme um das Mädchen und rief: »Du wirst bald eigene Kinder haben. Ich suche dir einen Mann.« Bald danach aber kam ein Schwärm schwarzköpfiger Vögel das Wadi hinaufgeflogen, darunter ein dunkles, kräftiges Weibchen. Von da an sahen Ur und die Seinen ihren Freund nie mehr wieder.
Am anderen Ende des
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