Die Quelle
aufzuspüren und ihn in die Weiten südlich des Wadi zu treiben. Dann mußten die Höhlenmänner in das geheimnisvolle Sumpfgebiet eindringen, wo scharfdornige Ranken sich an sie klammerten und saugender Schlamm sie an den Knöcheln packen wollte. Mehrere Tage lang tasteten sich die Jäger vorsichtig durch das Moor und markierten ihre Pfade, bis sie endlich in brennender Erregung das Ungeheuer ausgemacht hatten, den Eber mit seinen blitzenden Hauern, den Riesen, der soviel wog wie vier Männer. Sie quälten ihn zu Tode, sorgsam darauf bedacht, daß er mit seinen erschreckend scharfen Waffen nicht einem von ihnen den Bauch aufschlitzte oder den anderen hoch in die Luft wirbelte. Für Männer wie Ur bedeutete dieser Schluß der Eberjagd, der Kampf mit dem Scheusal, die höchste Bestätigung. Er war stolz darauf, daß er in den besten Jahren seines Lebens, zwischen zwanzig und vierundzwanzig, seine Jäger oft bei der Jagd auf den Eber geführt hatte. Doch jetzt wurde sich Ur bewußt, daß mit der Vollendung des Baues an der Quelle für ihn der Abschied von der Höhle gekommen war, daß er in einem Haus leben sollte, dem Wind, der Einsamkeit und den Gewittern preisgegeben. Weder war es ein geräumiges Haus, das seine Frau mit seinem Sohn baute, noch war es völlig regendicht. Feuer konnte es zerstören, und der Wind drang leicht durch die Wände; aber es hatte, verglichen mit der Höhle, große Vorzüge: Es war besser gelüftet und daher gesünder; man konnte es bei Bedarf vergrößern oder versetzen, und es stand dort, wo der, der es bewohnte, auf seinen Weizen achten und bequem zur Quelle gelangen konnte. Das aber, wodurch das Haus seine größte Bedeutung bekam, vermochte der alte Mann nicht vorauszusehen: In der Höhle hatten Ur und seine Vorfahren fast wie Tiere gelebt. Sie mußten dort wohnen, wo die Höhle war, und sie blieben auf ihren Raum beschränkt. Sie waren die Gefangenen der Höhle in ihrem Denken wie in ihrem Handeln, und wenn sie alt wurden, konnte es zudem geschehen, daß man sie erschlug oder verhungern ließ, weil jüngere Familien die Höhle beanspruchten. Mit dem Bau eines eigenen Hauses jedoch wurde Ur selbständig, wurde er zum Meister seiner Umwelt und das Haus zu seinem Diener. Es zwang ihn zu einer neuen Denkweise, ob er wollte oder nicht. Mit Widerwillen rief Ur seine Familie in der Höhle zusammen, als das Haus fertig war. Viele wollten über ihn und sein törichtes Unterfangen spotten. Nur sein Ansehen als Jäger hielt sie zurück. Er packte seine vier Speere, zwei Tierhäute, eine Schüssel und einen steinernen Hammer. Dann schritt er auf den Ausgang zu. Er spürte es: Jetzt nahm er Abschied von einer Art zu leben, in der er alt geworden war. Er blieb stehen und blickte noch einmal auf die düsteren Wände, die ihn seit seiner Kindheit beschützt hatten. Er sah in den Gang, der an der gegenüberliegenden Seite der Höhle noch tiefer in die Dunkelheit führte. Dann wandte er sein Gesicht dem Licht zu, trat hinaus und ging rasch den Pfad zur Quelle hinab. Dort warf er seine Speere gegen die Wand, setzte sich lange Zeit auf den Boden und starrte die sauberen, hellen Baumstämme an, die hier die Wände bildeten. Für ihn sahen sie fremd und gar nicht einladend aus.
Die Familie lebte noch nicht lange in dem Haus, als Urs Sohn eine Entdeckung machte: Man brauchte den Weizen nicht sich selbst und sein Keimen im Frühjahr nicht dem Zufall zu überlassen. Wenn man etwas von der Herbsternte zurückbehielt und in einem Sack aus Tierhaut trocken aufbewahrte, konnte man die Körner im Frühjahr aussäen, und das Korn wuchs genau dort, wo man wollte. Mit dieser Entdeckung war Urs Sippe dem nahegekommen, was wir heute als die Anfänge einer autarken, sich selbst versorgenden bäuerlichen Gesellschaft bezeichnen. Ur und die Seinen konnten das selbstverständlich nicht ahnen. Aber diesem ersten Schritt auf eine gesicherte Nahrungsgrundlage hin sollten immer weitere mit immer größerer Beschleunigung folgen: Wenige Tausend Jahre später schon konnten die Städte der frühen Hochkulturen entstehen; aus dem ältesten Bauernstand, dessen Angehörige noch alles für ihr Dasein Notwendige selbst erzeugten, löste sich ein Beruf nach dem andern ab; ein ausgedehnter Tauschhandel entwickelte sich; Straßen erwiesen sich als notwendig, um die Nahrungsmittel schneller befördern zu können, bis schließlich zur Erleichterung des Handels das
Geld erfunden wurde - die ganze verwickelte Struktur einer durch unzählige
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