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Die Quelle

Titel: Die Quelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James A Michener
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Angst war, wenn er auf einen in die Enge getriebenen Löwen oder auf einen wütenden Eber stieß. Auch Urs Frau kannte die Angst, die sie überkam, wenn ein Weib in der Höhle gebären sollte, denn sie hatte dabei Frauen sterben sehen. Auch Urs Tochter hatte erlebt, was Angst ist: An einem Abend waren die Jäger heimgekehrt. Einer von ihnen fehlte, denn der Eber hatte ihn getötet. Und schon von weitem hörte Urs Tochter den Ruf: »Er ist tot!« Da hatte sie gedacht, es sei Ur, und sie war voller Angst gewesen. Aber die Angst, die sie jetzt spürten, war eine neue Angst, entsprungen der langsam reifenden Einsicht in die Beziehungen zwischen dem Menschen und der Welt ringsum; sie wuchs aus dem nagenden Zweifel, ob die Dinge vielleicht doch nicht so einfach waren, wie sie an einem schönen Sommertag erschienen, wenn das reifende Korn sich noch in den Ähren verbirgt. Immer wieder schoß der bunte Bienenfresser durch das Wadi, immer wieder ließ er Mutter und Sohn darüber grübeln, ob er nicht vielleicht der Bote einer Macht außerhalb der Welt sei, die Menschen zu warnen, daß dieselbe Macht, die den Bienen den Tod brachte, sich auch auf die Felder und Häuser stürzen könne.
    Eines Morgens - der Weizen war reif zur Ernte - rief Ur plötzlich: »Da ist es!«
    »Was?« fragte seine Frau und sah ihn mißtrauisch an.
    »Wir sind in eine Falle geraten: Unsere ganze Kraft haben wir in den Weizen gesteckt.«
    »Was heißt >in eine Falle    »Wenn wir allen Weizen an einer Stelle anbauen, kann er leicht vernichtet werden.«
    »Du meinst die Sonne? Das Feuer?«
    »Die, oder den Eber, der die Felder verwüstet.«
    Sie sah ihren Mann mit unverhohlener Angst an, denn auf sein Wort - das Wort des Mannes, der in hohem Ansehen stand, der ein Jäger ohnegleichen war - mußte man hören. Wichtiger noch: Er hatte es gewagt, die Angst, die sie und ihr Sohn in sich aufsteigen gespürt hatten, in Worte zu fassen. Seine Worte aber bedeuteten, daß Ur und den Seinen sich ein Gesetz menschlichen Lebens kundtat: Je mehr sich eine Familie an ein bestimmtes Vorhaben bindet, desto anfälliger wird sie. Nun, da sie die Natur teilweise besiegt hatten, waren sie ihr ausgeliefert. »Was können wir tun?« fragte Urs Weib gefaßt.
    Urs Sohn sah abermals den bunten Bienenfresser unter den Zypressen seiner Beute nachjagen und sagte: »Wenn wir nur wüßten, wie wir dem Regen und der Sonne unsere Sorgen verständlich machen können.« Doch es fiel ihm nichts ein. Spät am Nachmittag aber merkten sie, daß ihr Feind aus ganz anderer Richtung kam, als sie gefürchtet hatten. Ein gewaltiges Gewitter ballte sich über dem Karmel zusammen und zog nordwärts, unter Blitzen und Donnerrollen. Dicke Tropfen fielen in den Staub und zerspritzten auf dem Felsen. Sie folgten einander immer schneller, und bald senkte sich eine Regenwand vom Himmel herab. Das Wasser füllte das Wadi und wälzte sich als gelbe Flut wirbelnd zwischen den Bäumen heraus. »Es will zum Haus!« schrie Ur. Er sah, daß aller Weizen seiner Frau davongeschwemmt würde, wenn das Unwetter anhielt. »Das Gewitter ist unser Feind, weil wir den wilden Weizen gestohlen haben«, wimmerte das Weib, fassungslos angesichts der näherbrodelnden Fluten. Ur aber war nicht gewillt, vor der Flut aufzugeben, ebensowenig, wie er vor einem Löwen geflohen wäre. Er rannte zum Haus, packte seinen besten Speer und eilte damit zum Rande des Wadi, ein krummbeiniger Alter, bereit, sich den Elementen zu stellen. »Zurück«, brüllte er in das Rasen des Gewitters - und wußte doch nicht, wohin er den Speer schleudern sollte.
    Wenn früher die Fluten gekommen waren, hatte er sich in die Höhle zurückgezogen und das Sinken des Wassers abgewartet. Jetzt aber stand sein Haus mitten im Gewitter, er selbst war hineingerissen, und es gab keinen Ausweg. »Zurück!« schrie er wieder.
    Da hatte Urs Sohn plötzlich den rettenden Einfall: Ein Damm mußte aufgeworfen werden, schnell, ein schützender Wall. Er konnte die Flut vom Weizenfeld fernhalten, wenn nur der Regen bald aufhörte. So rannte er davon und schichtete dort, wo das Land tiefer lag, Schlamm und Steine und Äste auf -den Damm, der das Wasser ablenkte. Laut rief er die Seinen zusammen, hastig zeigte er ihnen, was sie zu machen hatten. Ur begriff. Er ließ den Speer fallen und packte mit an. Die Tochter stürzte zur Höhle und holte Hilfe. Und während der Donner über ihren

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