Die Quelle der Seelen: Thriller (German Edition)
gesicherten, mit der Alarmanlage gekoppelten Stützen hing, und auf die Komplexität der Sicherheitsvorkehrungen in diesem Gebäude, doch jetzt begriff er, dass er ein wahres Meisterwerk vor Augen hatte.
Michael beobachtete die Drehungen der Kamera, stoppte die Zeit, stellte sich bildhaft vor, was er als Nächstes zu tun hatte, und führte sich die Bewegungen mehrmals so vor Augen, als würde er sie mit dem Körper vollführen. Dann, als wäre es Routine, ließ Michael die Hände los und schwang sich nach hinten. Mit dem Kopf nach unten hing er an den Knien. Blitzschnell glitt sein Messer unter den Rahmen und um das Gemälde herum und schnitt es aus der Halterung. Dann riss er die Leinwand aus dem Rahmen und drückte gleichzeitig ein Ersatzbild an ihre Stelle, das von hinten mit Magneten versehen war, die an den Wandhalterungen aus Metall hafteten, an denen der Rahmen befestigt war. Das Ersatzgemälde war bloß ein vergrößertes strukturiertes Foto, aber für die Kamera war es die perfekte Illusion.
Michael schwang sich wieder nach oben, perfekt in der Zeit, da die Kamera schon wieder durch den Raum schwenkte, geradewegs am Kunstwerk vorüber. Langsam bewegte Michael sich rückwärts die Zimmerdecke entlang und schwang sich schließlich aus der Tür. Er ließ sich auf den Boden fallen, legte das Gemälde vor sich, betrachtete das Meisterwerk aus der Nähe und bewunderte für einen Moment dessen Schönheit, bevor er es umdrehte.
Als er auf die Leinwand schaute, verwirrte ihn, was er sah. Er strich mit den Händen darüber, spürte die unebene Struktur, suchte die graue Oberfläche nach irgendeinem Zeichen ab für das, von dem Genevieve gesagt hatte, dass es da sein müsse – dieses Schreckliche, Beängstigende. Aber Michael fand nichts. Abgesehen von Goviers Signatur im unteren Eck war die Rückseite des Gemäldes leer.
Michael ergriff die Leinwand, hielt sie hoch und leuchtete mit der Taschenlampe auf die Rückseite, aber der Lichtstrahl vermochte das Kunstwerk nicht zu durchdringen. Schließlich untersuchte Michael die Seitenränder, drehte und wendete das Gemälde immer wieder. Es war die Dicke, die ihm ins Auge stach.
Er zog sein Messer und schnitt damit am Seitenrand entlang. Er hoffte, dass er recht hatte und dieses unschätzbar wertvolle Kunstwerk nicht sinnlos zerstörte. Bis zum Knauf glitt seine Klinge in das Gemälde, war auf beiden Seiten der Leinwand nicht mehr zu sehen. Michael zog das Messer am Rand entlang, drehte das Bild und schnitt weiter, bis die Klinge wieder dort angekommen war, wo er sie angesetzt hatte. Die beiden Leinwandstücke klappten auseinander. Michael legte die beiden Hälften auf den Boden. Die Rückseite des kostbaren Gemäldes war leer.
Aber auf der anderen Leinwand …
Michael starrte darauf. Es war eine detaillierte Landkarte, die das neunzig mal einhundertfünfzig Zentimeter große Stück Leinwand füllte – eine mehrdimensionale Darstellung der herrlichsten Bauwerke, durch Wege miteinander verbunden, die mit lateinischen und russischen Bezeichnungen gekennzeichnet waren. Obwohl Goviers Gemälde aus künstlerischer Sicht ein Meisterwerk war – diese Karte war sehr viel mehr.
Das hier war es, wovor Genevieve sich so sehr gefürchtet hatte.
Das hier hatte sie das Leben gekostet.
Michael legte die beiden Leinwände aufeinander, rollte sie zusammen, steckte sie in eine Röhre, die an seinem Rucksack hing, und huschte den Gang hinunter.
Der Wachmann Werner Heinz nahm die Treppe, als er vom Dach wieder nach unten ging. Sein Herz schlug immer noch heftig von der Darbietung des paarungsfreudigen Trios. Wortlos lief er durch die Lobby, vorüber an Philippe Olav, seinem Kollegen beim Sicherheitsdienst, und geradewegs in die Küche. Er spritzte sich Wasser ins Gesicht, schnappte sich eine Tasse Kaffee und lief zurück zur Treppe.
»Da draußen geht ’ne heiße Party ab. Die Winterwilden auf dem Dach musst du dir mal ansehen«, sagte Heinz auf Deutsch zu Olav.
»Ich kann erst in einer Stunde hier weg«, erwiderte Olav, ohne den Blick von den Bildschirmen zu nehmen.
»Pech für dich«, sagte Heinz mit einem Lächeln und ging zurück zur Feuertreppe.
Olav atmete laut aus; sein Interesse war geweckt. »Erzähl mir von den Wilden.«
»Sobald ich den Keller überprüft habe.« Heinz machte sich auf den Weg nach unten.
Michael rannte zurück durch den Korridor, warf sich zwei Seile über den Rücken und sprang in den Fahrstuhlschacht. Die mechanischen Bewegungen, die in seinem
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