Die Quelle der Seelen: Thriller (German Edition)
die Brüstung. Er war an der Fassade des fünfstöckigen Geschäftshauses hinaufgeklettert, wobei die Granitblöcke ihm perfekten Halt für Finger und Zehen geboten hatten. Hinter der Wand des Fahrstuhlschachts konnte er sich verstecken, öffnete lautlos seinen Rucksack mit dem Handwerkszeug und zog ein Kernmantel-Kletterseil heraus, das er sicherte, um sich anschließend schnell von hier absetzen zu können. Er platzierte zwei große Magnete am oberen und unteren Rand der Tür, hinter der sich der Fahrstuhlschacht verbarg, und setzte auf diese Weise die Signalgeber außer Gefecht, sodass sie nicht mehr anzeigten, dass etwas vorgefallen war, was normalerweise einen Alarm ausgelöst hätte.
Nachdem er die Türverriegelung aufgebrochen hatte, glitt Michael durch den Spalt und schloss die Tür hinter sich, ohne das leiseste Geräusch zu machen. Anhand der Informationen, die er von Genevieve bekommen hatte, und dank seiner Kontakte zur Unterwelt war es Michael gelungen, Belanges derzeitigen Aufenthaltsort herauszufinden und zu verifizieren, dass die fragliche Transaktion unmittelbar bevorstand. Den Grundriss des Gebäudes zu erwerben erwies sich als schwieriger, und Michael war erst vor einer Stunde damit fertig geworden, sich diesen Grundriss einzuprägen.
Nun blickte er forschend hinunter in den hundert Jahre alten, dunklen Fahrstuhlschacht. Verbrauchte, faulig riechende Luft, die ihm beinahe die Sinne raubte, schlug ihm entgegen. Er zog das mit einem Federmechanismus ausgestattete Klemmgerät aus der Tasche und befestigte es an der Führungsschiene unter der Decke. Dann klinkte er seinen Klettergurt an dem Seil ein, an dem er sich herunterlassen wollte, prüfte den Sitz des Rucksacks auf seinem Rücken und ließ sich ohne einen Laut in den sechs Stockwerke tiefen Schacht hinunter. Das Klemmgerät ließ ihn mit einer Geschwindigkeit in die Tiefe sinken, die er mittels einer Fernbedienung steuern konnte, die er in der Hand hielt. Für den Weg nach unten brauchte das Klemmgerät nur sehr wenig Zeit; viel mehr würde es für den gummibandartigen Effekt benötigen, mit dem es Michael später, bei seinem hoffentlich erfolgreichen Abgang, aus dem Kellergeschoss nach oben zog.
Michael drosselte die Sinkgeschwindigkeit, ließ sich auf das Dach der Fahrstuhlkabine hinunter, die über Nacht im Untergeschoss geparkt war, und drückte ein Ohr gegen die kalte Metalltür. Draußen war nichts zu hören. Michael öffnete behutsam die Türen, ließ sie hinter sich wieder zugleiten und kletterte in den dunklen Korridor.
In der Welt der Kunst geht es um Profit, wie in jeder anderen Branche. Die meisten Dinge haben den größten Wert, solange sie noch nicht gezeichnet sind von Alter und Abnutzung. Doch bis man sich am Wert eines Kunstwerks erfreuen darf, dauert es meist sehr lange Zeit, wie bei einem edlen Wein oder alten Büchern. Erst wenn der Schöpfer des Werkes nicht mehr am Leben und in der Lage ist, die Früchte dafür zu ernten, erreicht es einen veritablen Wert. Gemälde zeigen, was der Künstler mit den Augen und dem Geist gesehen und was er über sein Herz schließlich zum Ausdruck gebracht hat, indem er es auf Leinwand bannte. Jedes Kunstwerk ist einzigartig. Es ist wie ein Kind, das Liebe und Stolz verdient.
Dennoch ist es trotz der Arbeit nur selten der Künstler selbst, der den Lohn für seine Mühen erntet. Stattdessen ist es der Investor, derjenige, der das Geld hat und weiß, wie der Markt auszuschlachten ist, und der sich an der Beute ergötzt. Oft sind es Individuen, die nicht zwischen einer Leinwand und einem Blatt Papier unterscheiden können, nicht zwischen einem Pinsel und einem Füllfederhalter. Obwohl manche von ihnen zu schätzen wissen, womit sie handeln, ist es für die meisten nur das Besitzen, das sie mit Stolz erfüllt. Denn ihnen gehört ein einzigartiges Objekt, das sein verstorbener Schöpfer nicht noch einmal erschaffen kann.
Es ist der Wunsch, das Unerreichbare in den eigenen Besitz zu bringen, das den wahren Sammler antreibt. Zu besitzen, was andere nicht besitzen können. Besonders gilt dies für Gegenstände, die seit langem als verschollen gelten, verloren in der Zeit, durch Kriege oder Verwüstung. Und genau wie in der Wirtschaft richtet sich der Preis nach Angebot und Nachfrage.
»Das Vermächtnis« von Chaucer Govier war der Schaffenshöhepunkt dieses Künstlers, eine seiner großartigsten Arbeiten von unglaublicher Schönheit, emotionaler Tiefe und in einer Perfektion, die nie wiederholt
Weitere Kostenlose Bücher