Die Quelle
öffnete sich und
verlangte nach Sandras Aufmerksamkeit. Hatte Daniel überhaupt an der
TU-Berlin studiert? Wie wenig sie doch über ihn wusste! Ohne große
Hoffnungen klickte sie sich durch die Seiten und plötzlich stutzte sie.
Die Homepage bot die Möglichkeit nach ehemaligen Studenten zu suchen…
Dieser Service war anscheinend nicht für Außenstehende wie sie
gedacht, doch was, wenn sie einfach eine Email hinterließ? Ein Versuch
würde wohl nicht schaden… Oder doch? Wollte sie überhaupt Daniel
finden, oder wäre es besser, einfach aufzugeben? Ihre Pflicht Lisa
gegenüber hatte sie ja schon erfüllt… Wie leicht es wäre, ihrer
Tochter jetzt einfach zu sagen, sie habe es versucht, aber nichts
gefunden…Nein… Sie wollte sie nicht anlügen. Ohnehin würde ihre E-mail
höchst wahrscheinlich nicht beantwortet werden. Sie konnte sie abschicken
und dann Lisa wahrheitsgemäß sagen, sie habe alles versucht… Lustlos
und zögerlich tippte Sandra.
„Hallo!
Ich suche nach Daniel, einem Architektur-Studenten, der
1992 für seine Abschlussarbeit zum Thema „Der Einfluss des Klimas in der
traditionellen Bauweise und die Schlussfolgerungen für die Moderne“ seine
Recherchen im Rahmen einer Europarundreise (unter anderem in Italien, in der
Gegend von San Remo) gemacht hat. Für Eure Hilfe wäre ich sehr
dankbar.
Mit freundlichen Grüßen
Sandra Koller
Aus Krems in Österreich“
Sie las die E-mail zwei Mal durch und schließlich
sendete sie sie ab. Erledigt. Mehr konnte sie nicht tun. Mehr wollte sie nicht
tun. Schon jetzt ließ der Gedanke sie frösteln, er könne
tatsächlich antworten… Was hatte sie sich dabei gedacht, ihn suchen zu
wollen und es auch noch Lisa zu versprechen?
*
Lisa saß im Klassenzimmer neben Irene, dabei
hörte sie den Ausführungen ihres Mathematik-Lehrers kaum zu. Sie
konnte an nichts anderes denken, als an der E-Mail, die ihre Mutter an die
Berliner Universität geschickt hatte. Würde diese eine E-Mail sie
ihrem Ziel, ihren Vater endlich kennen zu lernen, näher bringen? Eine
Stimme in ihrer Seele schien es ihr bereits bestätigen zu wollen.
Verträumt sah sie aus dem Fenster und lauschte auf die leise Melodie die
ihre Gedankengänge zu begleiten schienen. Sie hatte sich an die
Klänge fast schon gewöhnt, die sich allem Anschein nach aus eigenem
Antrieb dazu entschieden hatten, Teil ihres Lebens zu werden.
Plötzlich fröstelte Lisa. Gedanken, die sie nie
gedacht hatte, hallten ähnlich einem Echo in ihr nach… Wie ein Schleier
legte sich das Bild eines Computermonitors vor ihr inneres Auge und ließ
das Klassenzimmer um sie herum verblassen. Ihr Atem stockte, während sie
erstaunt und besorgt zugleich versuchte zu verstehen, was gerade mit ihr
geschah. Bald schon war sie sicher, es zu wissen… Lisa konnte ganz klar Sandras
Gedanken erkennen und das sehen, was ihre Mutter vor sich hatte. Sie
fühlte Tränen auf ihren Wangen, Tränen auf den Wangen ihrer
Mutter, die vor Angst gelähmt auf die letzten Worte einer E-Mail starrte.
‚...Ich kann Dir gar nicht sagen, wie erleichtert ich bin, Dich endlich wieder
treffen zu dürfen. Bitte schicke mir Deine Adresse, ich buche dann den
nächsten Flug zu Dir. Bis bald, Daniel.’
‚Was habe ich bloß getan!’ war der letzten Gedanke
Sandras, den Lisa erhaschen konnte, ehe der telepathische Kontakt zu ihrer
Mutter abbrach. Lisa nahm wieder das Klassenzimmer wahr, in welchem sie
saß. Diesmal brauchte sie nicht lange, um die neuen Möglichkeiten,
die sich ihr boten, anzunehmen. Sie konnte Gedanken lesen? Gut… Dann würde
sie diese Fähigkeit auch nutzen und ebenso das Wissen, das sich ihr auf
diese befremdende Weise offenbarte! Sie warf einen Blick zu Irene, ihre Worte
richtete sie jedoch mehr zu sich selbst.
„Ich muss nach Hause!“.
Wohl sprach sie den Satz lauter aus, als sie gedacht
hatte, denn der Lehrer stockte in seinem Satz.
„Frau Koller, stimmt etwas nicht?“ Sein Blick wirkte
besorgt und Lisa fühlte plötzlich seine Gedanken, sah durch seine
Augen auf ihr eigenes, entsetztes Gesicht, doch dabei beließ sie es
nicht. Als habe sie ihr ganzes Leben lang nichts anderes getan, ließ sie
ihre eigene Gedanken in die des Lehrers fließen und er sprach genau die
Worte aus, die sie sich wünschte, von ihm zu hören.
„Du darfst gehen Lisa. Irene, würdest du sie
begleiten? Komm bitte danach sofort in den Unterricht zurück.“
Hatte sie ihn dazu gebracht das zu sagen, oder waren
diese Worte aus seinem eigenem Willen
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